EU Artificial Intelligence Act (AIA) – Impact für Medizinprodukte-Hersteller?
Künstliche Intelligenz (KI), oder Englisch „Artificial Intelligence (AI)“, hat sich zu einem regelrechten Hype entwickelt. Und das nicht nur, weil es cool klingt, sondern weil man mit aktuellen Methoden der KI ganz praktische Aufgaben des täglichen Lebens unterstützen oder sogar automatisieren kann – Aufgaben, die bisher dem Menschen, und hier sogar absoluten Spezialisten, vorbehalten waren. Genau dieses – „die Maschine kann nun, was sonst nur Menschen konnten“- hat wohl die EU auf den Plan gerufen, denn auch Maschinen können und werden Fehler machen. Und genau wie bei Menschen, ist nicht jeder Maschine in jeder Angelegenheit blind zu vertrauen. Im April 2021 hat die EU-Kommission ihren Entwurf für eine Verordnung über Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence Act, AI Act) veröffentlicht. Die neue vorgeschlagene Regulierung erfasst sehr breit zahlreiche Produktbereiche, darunter Medizinprodukte gemäß EU 2017/745 (MDR) und In-Vitro-Diagnostika gemäß EU 2017/746 (IVDR). Wie viele der aktuell bereits auf dem Markt verfügbaren Medizinprodukte bereits KI einsetzen, ist schwer abzuschätzen. Betrachtet man das Marketing von Medizinprodukten, sind es bereits sehr viele, und die Zahl wird wahrscheinlich weiterhin stark zunehmen. Die Technik hat sich bewährt und hat bereits neue Anwendungsfelder erschlossen.
Sechs Fragen an Oliver Hilgers, Experte für Software als Medizinprodukt (Sofware as Medical Device, SaMD)
Frage 1: Die Regulierung spricht von KI-Produkten. Sind damit sämtliche Produkte gemeint, oder wie stelle ich fest, ob ich von der neuen Regulierung betroffen sein werde?
Die Regulierung umfasst eine sehr breite Spanne von Produkten aus den verschiedensten Anwendungsbereichen – vom Auto bis zur Kreditwürdigkeitsbestimmung-, darunter auch Medizinprodukte. Der Grad der Regulierung orientiert sich dann am Risiko der Anwendung: Von Geboten bei niedrigem Risiko bis zu Verboten von Anwendungen wie Social Scoring. Das Gros der Regulierung dreht sich um die sogenannten Hoch-Risiko-KI.
Konkret für Hersteller von Medizinprodukten bedeutet das vereinfacht: Wenn das Medizinprodukt Künstliche Intelligenz zur Erfüllung der Zweckbestimmung enthält, dann bin ich grundsätzlich von der neuen Regulierung betroffen. Die Definition von Künstlicher Intelligenz im AIA ist dabei überraschend breit gefasst und wird vermutlich noch Diskussionen aufwerfen (1,2).
In der vollen Breite der neuen Anforderungen, d.h. als Hoch-Risiko-KI, sind allerdings nur Medizinprodukte erfasst, die einem Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte unterliegen. Übersetzt bedeutet das, Medizinprodukte der Klasse IIa oder höher, die durch eine Benannte Stelle, z.B. dem TÜV, zertifiziert werden müssen.
Frage 2: Wenn Medizinprodukte-Hersteller ihr KI-Produkt bereits von einer Benannten Stelle überprüfen lassen müssen, reicht das nicht eigentlich aus, oder gibt es weitere Anforderungen, die über die Medizinprodukteverordnung hinausgehen?
Mit dem AIA kommen eine Reihe neuer Anforderungen an Prozesse und Dokumentation, welche zwar dem Stand der Technik bei der Entwicklung von KI-Algorithmen entsprechen, sich aber in diesem Umfang und Detail nicht unmittelbar aus der MDR ableiten lassen. Zum Beispiel wurden die Anforderungen zur Cybersecurity in KI spezifischen Bereichen konkretisiert, und im Bereich des Managements der Trainings- und Testdaten sind neue Anforderungen formuliert worden:

Frage 3: Gibt es unter den neuen Anforderungen welche, die dir besondere Sorgen bereiten?
Sagen wir, ich sehe einige Herausforderungen. Die Anforderungen bezüglich der menschlichen Aufsicht über die KI ist zumindest ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist es im höchsten Maße wünschenswert, der Maschine über die Schulter schauen zu können, um ggf. eingreifen zu können. Andererseits könnte es passieren, dass die Umsetzung von Echtzeitanwendungen erschwert oder sogar verhindert werden, da hier die menschliche Aufsicht nicht effektiv vor dem Wirken der KI umgesetzt werden kann. Hierzu wird es noch mehr Diskussionen zur Risiko-/Nutzen-Abwägung und zur konkreten Umsetzung für spezifische Produktkategorien geben müssen.
Frage 4: Ich habe als Hersteller ein Produkt der Klasse IIa, wie läuft dann die Zertifizierung der Anforderungen aus dem AIA ab?
Die Zertifizierung soll durch für den AIA benannte Stellen erfolgen. Benannte Stellen für Medizinprodukte sollen zusätzlich für die Zertifizierung der AIA qualifiziert und benannt werden. Man sollte sich also am besten eine Benannte Stelle suchen, die dann beides abdeckt. Wie viele der ohnehin schon wenigen für die MDR benannten Stellen die Zertifizierung für den AIA auf sich nehmen werden (3), ist schwer vorherzusagen, insbesondere, da sich bereits jetzt schon die Zertifizierungen nach der MDR bei den Benannten Stellen türmen.
Frage 5: Ab wann werden die Anforderungen verbindlich?
Das Gesetzgebungsverfahren ist noch nicht sehr weit fortgeschritten, hat aber bereits mehrere Runden durch den Rat der EU gedreht und einige Länder habe ihre Einwände eingereicht (1). Ein finales Publikationsdatum lässt sich derzeit schwer abschätzen. Es wird außerdem Übergangsregelungen geben ab Gültigkeitsdatum der AIA.
Frage 6: Was ist dein Rat an Medizinprodukte-Hersteller?
Jetzt anfangen! Auch wenn vielleicht manches Detail im Gesetzgebungsverfahren noch geändert wird, machen Sie sich zeitnah mit den neuen Anforderungen aus der AIA vertraut, und planen Sie die wesentlichen, neuen Dokumentationsinhalte und Funktionalitäten so früh wie möglich. Einiges lässt sich nachträglich nur schwer oder gar nicht nachrüsten. Viele der neuen Anforderungen werden voraussichtlich im Kern bestehen bleiben, da sie Forderungen anderer Experten, z.B. des Team NB ähnlich sind (2).
Außerdem mag es sinnvoll sein, sich über Verbände aktiv in das laufende Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Einiges im AIA ist bisher nicht sehr klar beschrieben oder ist sehr strikt formuliert und kann unter Umständen die Entwicklung von bestimmten Medizinprodukten be- oder im schlimmsten Fall sogar verhindern.
Oliver Hilgers – Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers- ist Mitglied in verschiedenen Normenausschüssen der EU. Er gestaltet mit seiner Expertise die Zulassungsprozesse von Software und digitalen Therapien, die als Medizinprodukte zertifiziert sind und vermehrt auch mit Methoden der Künstlichen Intelligenz arbeiten. Oliver Hilgers berät Unternehmen, wie sie ihre Innovationen als zertifizierte Medizinprodukte sicher und effizient in die Patientenversorgung bringen können.
Quellen:
- https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2021/698792/EPRS_BRI(2021)698792_EN.pdf
- Fragenkatalog „Künstliche Intelligenz bei Medizinprodukten“; https://www.ig-nb.de/dok_view?oid=824260
- Team-NB Position Paper; https://www.team-nb.org/wp-content/uploads/2021/10/Team-NB-PositionPaper-Artificial-Intelligence.pdf
- Vorschaubild: Artificial Neural Network with Chip, Wikimedia
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Health-IT
Post-Market Surveillance – Der globale Trend zur aktiven Marktüberwachung
Mit ihrem Geltungsbeginn hat die neue Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) zahlreiche Neuerungen eingeführt – darunter auch neue Vorschriften zur Marktüberwachung der Post-Market Surveillance (PMS). Und während der Fokus der Medizinproduktehersteller derzeit klar auf der Erstellung der MDR konformen Technischen Dokumentationen und Kennzeichnungen ihrer unter den ehemaligen Direktiven zugelassenen Produkte bis zum 26. Mai 2024 liegt und ein neues MDCG Dokument mit weiteren Erläuterungen und Empfehlungen das nächste jagt, hat die MDR fast nebenbei mit den neuen PMS Anforderungen wichtige Neuerungen eingeführt, die einen völlig neuen Ansatz verfolgen: Erstmals werden Hersteller in Europa dazu verpflichtet, aktiv und systematisch relevante Daten über die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit ihrer auf dem Markt befindlichen Medizinprodukte über deren gesamten Lebenszyklus hinweg zu sammeln, zu dokumentieren und zu analysieren. Da lohnt sich ein Blick über die europäischen Grenzen hinweg.
IMDRF setzt Maßstäbe für nationales Recht
Das Internationale Forum der Aufsichtsbehörden für Medizinprodukte (International Medical Device Regulators Forum – IMDRF) ist ein Zusammenschluss der wichtigsten Gesundheitsbehörden aus Australien, Brasilien, Kanada, China, der Europäischen Union, Japan und den USA sowie der Weltgesundheitsorganisation. Die Ziele des IMDRF waren von Beginn an die internationale Harmonisierung und Konvergenz der unterschiedlichen rechtlichen Bestimmungen. Selbst wenn die Publikationen des IMDRF nur empfehlenden Charakter für die nationalen Regularien haben, so bilden sie doch die Basis für die Rechtsvorschriften in zahlreichen Ländern. In dem strategischen Plan 2021–2025 erklärt das IMDRF nun die Stärkung der PMS und die Umsetzung des Ansatzes, Produkte während ihres gesamten Lebenszyklus hinweg zu überwachen und zu entwickeln, als eines der Hauptziele der nächsten fünf Jahre.
Damit erkennt das IMDRF, dass die relativ kurze Entwicklungsphase eines Medizinproduktes möglicherweise nicht die Sicherheit und Wirksamkeit nicht angemessen widerspiegelt. Ein effektives PMS ist daher erforderlich, um den verschiedenen Faktoren, die nach der Markteinführung hinzukommen, entsprechend zu begegnen. Nur so ist es möglich, Risiken rechtzeitig zu identifizieren und mit Hilfe der gesammelten Daten das Medizinprodukt kontinuierlich zu verbessern.
Neue Anforderungen in Kanada ab Dezember
Auch die kanadische Aufsichtsbehörde Health Canada hat die Bedeutung der PMS erkannt. Mit der im Dezember 2020 geänderten kanadischen Verordnung „Medical Devices Regulations“ wird der Ansatz, Medizinprodukte während ihres ganzen Lebenszyklus strenger zu überwachen, gestärkt. Vom 23. Dezember 2021 an müssen Hersteller je nach Risikoklasse jedes Jahr oder alle zwei Jahre für Produkte der Klassen II, III und IV einen Summary Report vorlegen. Dieser sollte neben den gemeldeten Vorkommnissen auch weitere Informationen zu nicht meldepflichtigen unerwünschten Nebenwirkungen, Problemen mit dem Produkt oder Verbraucherbeschwerden beinhalten. Auch umfasst er schwerwiegende Risiken für die Gesundheit, die außerhalb Kanadas festgestellt wurden. Änderung der Nutzen-Risiko-Abwägung aufgrund der gesammelten Daten sind innerhalb von 72 Stunden zu melden.
Anpassung Australiens an Europa?
Die Therapeutic Goods Administration (TGA) arbeitet gerade an zahlreichen Verbesserungen ihrer eigenen Überwachungsfunktion. Dazu zählen neben mehr Transparenz und einer verbesserten Kommunikation mit Verbrauchern und Patienten auch die Einführung neuer IT Systeme und die Optimierung von Prozessen, um Risiken früher und besser zu identifizieren. Als maßgeblich erkennt die TGA auch den Vorteil der grenzüberschreitenden Nutzung von Daten, denn dadurch werden sowohl Hersteller als auch Behörden entlastet. Derzeit gibt es für Australien neben den Anforderungen an die Vigilanz und den sich daraus ergebenden Korrekturmaßnahmen noch keine Verpflichtung des Herstellers, den Markt aktiv zu überwachen. Doch das könnte sich bald ändern. Australien und die Europäische Union verbindet aufgrund der Anerkennung der Konformitätserklärung eine enge Zusammenarbeit. Der Geltungsbeginn der MDR in Europa stellt nun auch die TGA vor die Herausforderung, ihre regulatorischen Bestimmungen entsprechend anzugleichen.
Chinas kontinuierliche Marktüberwachung
Die neue Verordnung zur Überwachung und Verwaltung der Medizinprodukte Nr. 739 ist am 01. Juni 2021 in Kraft getreten. Diese stärkt die Befugnisse der chinesischen Aufsichtsbehörde National Medical Products Administration (NMPA) in Hinblick auf die Marktüberwachung und Inspektionen. Auch die Strafen bei Nichteinhaltung der Anforderungen sind empfindlich gestiegen. In China ist der Zulassungsinhaber, der in China auch der ausländische Hersteller ist, verpflichtet das Vigilanz- und PMS-Überwachungssystem in sein Qualitätsmanagementsystem zu implementieren. Gemäß Verordnung Nr. 739 muss der Zulassungsinhaber sein Produkt kontinuierlich überwachen, dessen Risiko bewerten und auf der Grundlage von Bewertungen wirksame Kontrollmaßnahmen ergreifen. Dazu gehören auch die Einreichung von periodischen Risikobewertungsberichten an die NMPA.
Mexiko: PMS ermöglicht vereinfachte Zulassungserneuerung
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen aktiver PMS und der Vereinfachung von Zulassungserneuerungen. Wird die Marktüberwachung nicht aufs Reagieren von eingehenden Beschwerden und Ereignissen beschränkt, sondern wird bewusst nach neuen Daten gesucht oder sogar klinische Nachbeobachtungen durchgeführt und so die Nutzen-Risiko-Abwägung stets aktuell gehalten, gibt es keinen Grund mehr, komplexe Erneuerungsprozesse zu fordern. Die mexikanische Behörde COFEPRIS hat in diesem Zusammenhang mit der am 01. Juni 2021 in Kraft getretenen Revision der Verordnung über die Gesundheitsprodukte erste wichtige Änderungen umgesetzt. Dazu gehört die Vereinfachung der Zulassungserneuerung, durch die u. a. nur noch ein vereinfachtes Verfahren für die erste Verlängerung der Marktzulassung notwendig wird. Alle folgenden Verlängerungen werden dann als einfache Meldung ohne Überprüfung von COFEPRIS eingereicht. Weiter bestehen bleibt hingegen die Anforderung, alle fünf Jahre mindestens drei Monate vor dem Erneuerungsantrag einen sogenannten Technovigilanz-Bericht einzureichen, der Sicherheits- und Verkaufsdaten des Produktes umfasst. Damit greift eins ins andere.
Ausblick: Die Bedeutung der PMS für zukünftige Prozesse und die Sicherheit von Medizinprodukten
Die aktive und systematische Marktüberwachung durch den Hersteller wird in den nächsten Jahren global einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Denn bei aller Mehrarbeit und höherem Kostenaufwand darf nicht übersehen werden, welches Potenzial in ihr liegt. Eine aktive PMS bedeutet auch immer aktuelle Daten zum Produkt, eine optimale Nutzen-Risiko-Abwägung und ein stetiger Austausch der aktuellen Daten mit den Behörden. Damit entfällt die Notwendigkeit komplexer Überprüfungen der Zulassungserneuerung, sodass diese Prozesse in Zukunft minimiert werden können oder gar ganz wegfallen. COVID-19 hat es indes geschafft, dass die nationalen Behörden näher zusammengerückt sind. Sie haben den Vorteil erkannt, der im Teilen von Daten und Erfahrungen liegt, um davon gegenseitig zum Wohl der eigenen Bevölkerung zu profitieren. Dieses Teilen von durch die Marktüberwachung gewonnen Daten mag noch in den Anfängen sein, aber was EUDAMED für die Europäische Union vormacht, könnte auch auf internationaler Ebene verwirklicht werden. Das Ziel muss sein, Medizinprodukte für alle – weltweit – sicherer zu machen.
Die Autorin Katrin Rosen hilft mit ihrer RegIntAs Daedalus® Datenbank die gesetzlichen Bestimmungen aus den verschiedensten Länder im Bereich Medizinprodukte und Arzneimittel zu erfüllen. Sie schafft für Kunden der Pharma- und MedTech-Branche Zugang zu gut aufbereiteten länderspezifischen, regulatorischen Informationen, wie z.B. Produktzertifizierung und Sicherheitsberichte.
- Veröffentlicht in News
Neue MDR: Mehr Sicherheit für Patienten, große Unsicherheit für MedTech-Branche?
Die Medical Device Regulation (MDR) und die In-vitro-Device Regulation (IVDR) treten 2020 bzw. 2022 in Kraft und werden die Geschäftsgrundlage vieler Medtech-Firmen grundlegend verändern. Insbesondere im Bereich Regulatory Affairs muss massiv investiert werden. Medizinprodukte sind CE-kennzeichnungspflichtig und müssen ein sogenanntes Konformitätsverfahren durchlaufen, dessen Komplexität sich am Risiko des Produktes orientiert.
Die Anforderungen in diesem Konformitätsverfahren werden zukünftig insgesamt verschärft. Für Klasse I Produkte mit geringem Risiko kann der Hersteller die Konformität weiterhin ohne Benannte Stelle (Notified Body) erklären. Allerdings rutschen etliche Produkte der bisherigen Klasse I in die Klasse II, so dass eine Benannte Stellen auditieren muss. Im Bereich der In-Vitro-Produkte, die bisher zu rund 80 Prozent keiner Auditierung bedurften, müssen sich Hersteller nun einem aufwändigeren, standardisierten Prozedere unterwerfen.
Auch nach der Markteinführung muss der Hersteller die Wirksamkeit seiner Produkte anhand von klinischen Daten, z. B. aus der Marktüberwachung, dokumentieren (1).
Durch strengere Auflagen an die Zulassungsstellen (Notified Bodies) und die verschärfte Überwachung der Akkreditierungsbehörden sowie die sinkende Anzahl der Notified Bodies in Europa, wird es zu Engpässen im Zulassungsverfahren kommen. Für komplexere Medizinprodukte geht man von Verzögerungen von bis zu vier Jahren aus (2).
Um rechtzeitig den neuen Vorschriften zu genügen und die dazu notwendige, regulatorische Expertise in Unternehmen auf- und auszubauen, sind zusätzliche Personalressourcen erforderlich. Die Kosten für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), die 95 Prozent aller Medtech-Firmen ausmachen, sind enorm. Unter der Annahme von zwei zusätzlichen Mitarbeitern pro Unternehmen belaufen sie sich in den nächsten drei Jahren kumuliert auf über 10 Mrd.€ (3).
Risiken erfolgreich steuern:
3 Tipps für eine gute Vorbereitung auf die MDR
Interview mit Roman M. Müller, Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers. Er ist Geschäftsführer und Inhaber der rm² Strategy Consulting.
Herr Müller, Sie sind seit knapp 20 Jahren in der Medizintechnikbranche aktiv. Welche Tipps im Umgang mit der neuen MDR geben Sie MedTech-Unternehmen?
Die Entwicklungsprozesse für medizinische Produkte sind ohnehin komplex. Die Änderungen durch die neue MDR erhöhen die Kosten und den Zeitaufwand für die Zertifizierungsprozesse und die Überwachung der Produktsicherheit in den Unternehmen erheblich. Bei den Benannten Stellen wird die Neubewertung aller neuen und bestehenden Medizinprodukte zu Verzögerungen im Zertifizierungs- und Überwachungsprozess führen.
1. Gute Vorbereitung heißt enge Abstimmung mit Behörden
Gut vorbereitet können Unternehmen frühzeitig Maßnahmen ergreifen, um in einem reibungslosen Übergang das Portfolio ihre Medizinprodukte neu zu bewerten und die Zertifizierungs- und Überwachungsprozesse entsprechend der neuen MDR erfolgreich anzupassen. Deshalb sollten Unternehmen potenzielle Compliance-Fragen frühzeitig mit Ihrer Benannten Stelle diskutieren, um entsprechende Implementierungsprozesse zu entwickeln.
2. Gute Vorbereitung heißt Konzentration auf leistungsstarke und verkehrsfähige Medizinprodukte
Unternehmen werden sich unter den verschärften regulatorischen Rahmenbedingungen nur mit überzeugenden Medizinprodukten im Markt behaupten können. Deshalb müssen sie jetzt ihre Produktportfolios neu bewerten, d. h. den Aufwand für die veränderten Anforderungen an Marktüberwachung und Zulassungsprozess kalkulieren. Sind zusätzliche klinische Studien erforderlich, wie verändert sich der Personaleinsatz? Letztlich werden die Produktkosten neu berechnet. Unter Einbeziehung von Marktpotentialen, Lebenszyklen und der Wettbewerbssituation eines jeden Medizinproduktes im Portfolio lassen sich valide Investitionsentscheidungen treffen und Veränderungen des Return on Investment (ROI) in der Bilanzplanung (P&L) mittel- und langfristig abbilden.
3. Gute Vorbereitung heißt die Organisationsstrukturen und die Vermarktungsstrategie an die Rahmenbedingungen anpassen und zeitnah implementieren
Unternehmen müssen wissen, ob und wenn ja wie, Marketing- und Vertriebsstrategien angepasst und organisatorische Strukturen gegebenenfalls verändert werden müssen. Strategische Unternehmensziele sind in strukturierte Projektplanungs- und Umsetzungsprozesse zu überführen, mit denen die Verkaufsteams gesteuert werden können. Das ist ein mehrstufiger Prozess, in dem sich entscheidet, wie gut es Unternehmen gelingt, z. B. Übergangsfristen sinnvoll zu nutzen und Verzögerungen, die durch die Überlastung der Zulassungsbehörden zu erwarten sind, erfolgreich zu überbrücken.
Faktenbox MDR: Hintergrundwissen
Die Medical Device Regulation (MDR) ist eine Europäische Richtlinie. Sie wird die derzeitige EU-Richtlinie für Medizinprodukte 93/42 / EWG durch die EU-Richtlinie 90/385 / EWG ersetzen.2. Wann wird die MDR implementiert?
Die MDR trat am 25. Mai 2017 mit einer Übergangsfrist von 3 Jahren bis zum 26. Mai 2020 in Kraft.
3. Wann müssen Hersteller von Medizinprodukten der neuen MDR entsprechen?
Hersteller von derzeit zugelassenen Medizinprodukten haben eine Übergangszeit von drei Jahren (bis zum 26. Mai 2020), um die Anforderungen der MDR zu erfüllen. Dieser Übergang kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 26. Mai 2024 erweitert werden.
4. Was sind die wichtigsten Änderungen im neuen MDR?
Einige der wichtigsten Änderungen umfassen…
- Bisher nicht regulierte Produkte werden zu Medizinprodukten
Erweiterung des Produktumfangs. Die Definition von Medizinprodukten und aktiv implantierbaren Medizinprodukten wird erheblich erweitert, um Produkte einzuschließen, die keinen medizinischen Verwendungszweck haben, und Geräte, die zum Zweck der “Vorhersage” einer Krankheit oder eines anderen Gesundheitszustands entwickelt wurden. - Die Risikobewertung bestehender Medizinprodukte wird verschärft
Neu-Klassifizierung von Produkten nach Risiko, Kontaktdauer und Invasivität. Die MDR fordert von den Herstellern, die Klassifizierungsregeln zu überprüfen und ihre technische Dokumentation entsprechend zu aktualisieren. - Medizinprodukte mit hoher Risikoklassifizierung müssen Sicherheit und Leistungsprofile in klinischen Studien nachweisen
Präzisere klinische Nachweise für Klasse-III- und implantierbare Produkte. Die Hersteller müssen klinische Bewertungen durchführen, wenn sie nicht genügend klinische Nachweise haben, um Aussagen zur Sicherheit und Leistungsfähigkeit eines bestimmten Gerätes zu belegen. - Medizinprodukte der mittleren Risikoklasse müssen gegebenenfalls ebenfalls klinische Studiennachweise für Sicherheit und Nutzen erbringen
Systematische klinische Beurteilung von Medizinprodukten der Klassen IIa und IIb. Der Hersteller muss seine klinische Bewertung erneut vorbereiten, indem er den neuen Wortlaut der Verordnung darüber berücksichtigt, wann ein Äquivalenzansatz ausreichend ist und unter welchen Umständen es gerechtfertigt ist, keine klinischen Untersuchungen durchzuführen. - Bessere Markttransparenz durch Einführung eines eindeutigen Produktschlüssels für alle Medizinprodukte.
Mit dem eindeutigen Produktschlüssel Unique Device Identification (UDI) werden sowohl das Produkt als auch die Produktion identifiziert, die Rückverfolgbarkeit soll so z.B. bei Produktrückrufen verbessert werden. Ab dem 26.05.2020 sollen dann sowohl alle Wirtschaftsakteure als auch deren MDR-Produkte in der Europäischen EUDAMED Datenbank verfügbar sein. - Strengere behördliche Überwachung durch die Benannten Stellen. Dies geht unternehmensseitig mit einem höheren Aufwand in der Dokumentation und der Einhaltung der Vorschriften durch Benennung einer verantwortlichen Person einher.
- Es gibt keine Ausnahmen, d. h. alle derzeit zertifizierten Medizinprodukte und aktiven implantierbaren Medizinprodukte müssen unter Einhaltung der neuen Vorschriften erneut zertifiziert werden.
5. Gibt es Übergangsfristen?
Artikel 120 Zertifikate, die vor dem 25. Mai 2017 oder während der Übergangszeit gemäß den Richtlinien 90/385 / EWG und 93/42 / EWG ausgestellt wurden, bleiben bis zum Ende der im Zertifikat angegebenen Frist gültig. Vorausgesetzt, dass es keine signifikanten Änderungen gibt, z.B. organisatorische Änderungen, Änderungen, die nicht mit dem Design und dem beabsichtigten Zweck zusammenhängen. Bis zum 26. Mai 2020 sind parallele Zertifizierungen möglich. Die letzten MDD / AIMDD Zertifikate laufen am 26. Mai 2024 ab und der Abverkauf ist dann noch bis zum 26. Mai 2025 möglich. Danach sind die MDD / AIMDD Zertifikate nicht mehr gültig.

Quelle: MedTech Europe, Merlin Rietschel, Neues zu den Benannten Stellen, MedInform-Veranstaltung, Köln, 13.03.2018
Weiterführende Links
- Praxisbeispiel aus der Beratungspraxis von Roman Müller: Ein Mittelstandsunternehmen aus Baden-Württemberg stellt sich den Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR).
- MDR: Checkliste für eine erfolgreiche Implementierung
Quellen
- NZZ Neue Zürcher Zeitung, Europäische Medtech-Branche fürchtet verspätete Zulassungen, 12.02.2018
- MedInform, Aktueller Stand der Implementierung der EU-Medizinprodukte-Verordnung, Köln, 13.03.2018
- ConCep+, THINKING AHEAD! 12. LIMEDex Index Report – Q4/ 2017, 12.01.2018
- MedTech Europe, Merlin Rietschel, Neues zu den Benannten Stellen, MedInform-Veranstaltung, Köln, 13.03.2018
- Veröffentlicht in Digitalisierung