Digitalkompetenz & DiGA-Akzeptanz bei Ärzten
Was muss sich tun, damit digitale Therapien bei Patienten und Ärzten bekannter werden und dass mehr Therapeuten sie als Apps auf Rezept verordnen? Eine interdisziplinäre Runde mit Vertretern aus Lehre, Versorgungsforschung, Patientenversorgung, angehenden Medizinern sowie Vertriebs- und Marketing Experten hat beim Healthcare Shapers Live Talk a, 19. April diese Fragestellung diskutiert:
Digitalkompetenz – auch bei Digital Natives keine Selbstverständlichkeit
Digitale Therapien tauchen in der Ausbildung von Medizinstudenten bisher nicht auf, kein Wunder, die aktuelle Approbationsordnung, die die Ausbildungsinhalte für Mediziner definiert, stammt noch aus prädigitaler Zeit. Wenn Mediziner heute Wissen zu digitalen Therapien erlernen möchten, sind das freiwillige Angebote, die on top zum dichtgepackten Lehrstoff des Regelstudiums kommen, erklärt Gürcan Mustafa Özden (1), Project Lead im Projekt Digitale Medizin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, hat das Konsequenzen: Von 1.000 Befragten weiß nur jeder 5. Medizinstudent, dass es digitale Therapien gibt, die auf Rezept verordnet werden können. DiGAs gehen derzeit in der Ausbildung an der zukünftigen Medizinergeneration komplett vorbei, d. h. selbst bei den Digital Natives unter den Medizinern kann Digitalwissen also nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
DiGA-Training mit virtuellen Patienten
Till Winkler, Professor für Informationsmanagement an der Fernuniversität Hagen (2) möchte daher im Rahmen seiner Forschungsprojekte angehende Mediziner besser auf ihre Arbeit in einer zunehmend digitalisierten Versorgungslandschaft vorbereiten. Er forscht an der Entwicklung eines virtuellen Patienten-Modells, um die Verordnung und Nutzung von digitalen Therapien in der Lehre zu trainieren.
DiGAs als komplexe Interventionen verstehen
Der Versorgungsforscher Prof. Dr. Horst Christian Vollmar (3), Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin der Ruhr-Universität Bochum, betont, dass DiGAs komplexe Interventionen sind, die die Arzt-Patienten-Beziehung verändern und deshalb nicht isoliert als digitale stand-alone-Tools betrachtet werden können. Die DiGA wirkt abhängig vom individuellen Patienten, seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten sowie der Basis-Therapie, die von Patient zu Patient verschieden ist, genauso wie die individuelle Ausprägung von belastenden Symptomen oder Begleiterkrankungen. Das alles beeinflusst den individuell erlebbaren DiGA-Nutzen für den Patienten.
Therapeuten stärker einbeziehen in die DiGA-Therapie
Für die Ärztin, Dr. med. Alexandra Widmer (4), die DiGAs täglich verordnet, ist es wichtig, dass Patienten den Freischaltcode unmittelbar nach der Verordnung erhalten. Wenn das Tage dauert, verpufft die Aufklärung und Motivation. Auch das Nachfassen von Seiten der Therapeuten sei für die Adhärenz unheimlich wichtig. Wie kommt der Patient klar mit der DiGA, wie gut hilft sie bei der Krankheitsbewältigung. Sie macht sich stark für einen „blended“ DiGA-Ansatz, der Therapeuten auch im DiGA-Prozess mit einbindet, das verleihe der DiGA-Therapie einen höheren Stellenwert, d. h. die Wertigkeit der Therapie beim Patienten könne damit verbessert werden.
DiGAs – wie Arzneimittel über Außendienst bewerben
Marcus Bergler (5), der sich auf Go to Market Strategien für DiGAs spezialisiert hat, plädiert für die Bewerbung von DiGAs bei Ärzten über einen Außendienst, ähnlich wie das beim Vertrieb von Arzneimitteln der Fall ist. Wie bei Arzneimitteln auch, muss der Therapeut über eine digitale Therapie Bescheid wissen, die Chancen und Grenzen der digitalen Therapien verstehen, die Anwendungsgebiete und Kontraindikation kennen, das Wirkprinzip und die Funktionsweise einer DiGA verstehen und eine Vorstellung davon haben, wie ihre Wirksamkeit wissenschaftlich abgesichert ist. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin DGIM forderte verstärkte Aufklärung und schlägt dazu ein Konzept für DiGA-Erklärvideos vor (6).
Digitale Brückenköpfe in der Ärzteschaft smart identifizieren
Wie findet man die „digitalen Brückenköpfe“ innerhalb der Ärzteschaft, d. h. die Ärzte, die offen sind für digitale Therapien, die im digitalen Raum über DiGAs sprechen, diese verordnen, damit positive Erfahrung sammeln? Als Unterstützung für die Segmentierung dieses jungen Marktes bietet die Exaris Solutions mit der sog. Vertical Search eine Unterstützung für Unternehmen, die digitale Therapien gezielt bewerben möchten, erklärt Nicholas Rosen, Gründer des Startups (7).
DiGAs wirken nur mit motivierten Patienten
Im Gegensatz zu einem Arzneimittel sei bei DiGAs der Patient selbst der Schlüssel zum therapeutischen Erfolg, betont Dr. Ursula Kramer. Die DiGA-Expertin, die sich mit ihrer Qualitätsplattform HealthOn seit vielen Jahren für die Aufklärung über digitale Therapien und die Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz von Patienten und Therapeuten stark macht, plädiert für ein besseres Erwartungsmanagement in Sachen DiGAs. Nur bei Patienten, die zur aktiven Mitarbeit bereit sind, macht aus ihrer Sicht eine DiGA Sinn. Nur bei diesen Patienten können digitale Therapien wirken. Daher sei ein gutes Matching entscheidend, um Frustrationen zu vermeiden. Therapeuten müssen das Profil von Patienten kennen, die von einer digitalen Therapie mit einer DiGAs profitieren können. Dann werde sich perspektivisch auch die Rate der Folgeverordnung erhöhen, weil die „richtigen“ Patienten erleben, dass DiGAs sie wirkungsvoll bei der Krankheitsbewältigung unterstützen können.
Spannendes Thema für kommende LiveTalks?
Möchten Sie ein spannendes neues Produkt, einen Service oder eine Fragestellung in einen der kommenden Healthcare Shapers LiveTalks einbringen, ein Thema, das uns in Sachen „smarte Nutzung von Gesundheitsdaten“ inspiriert und weiterbringen kann? Dann melden Sie sich bei Günther Illert, dem Gründer des Healthcare Shapers Netzwerks.
Links:
- Gürcan Mastafa Özden
- Prof. Till Winkler, Lehrstuhl für Informationsmanagement Fernuniversität Hagen
- Prof. Dr. med. Horst Christian Vollmar, Ruhr Universität Bochum
- Dr. med. Alexandra Widmer
- Marcus Bergler
- DGIM-Arbeitsgruppe legt Konzept für DiGA-Erklärvideos vor
- Nicholas Rosen, Gründer der Exaris Solutions
- Dr. Ursula Kramer, HealthOn
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk
Patientenrolle stärken – USP in Business Modellen digitaler Innovationen
Wer fordert oder wünscht, dass Patienten aktiv mitwirken an Gesunderhaltung oder Therapie, wer nach mehr Patient Empowerment ruft, muss zuallererst auf die Kapazitäten schauen, die auf Seiten der Patienten vorhanden sind, damit diese das auch tun können, betont Mina Luetkens, Gründerin des Sozialunternehmens patient4digital (1).
Beim Healthcare Shapers Live-Talk hat sie die Stärkung dieser Kapazitäten als Erfolgsfaktor digitaler Innovationen ins Zentrum gestellt, weil sie nicht nur erfolgsversprechend sind in tragfähigen Geschäftsmodellen, sondern auch Schlüssel für den solidarischen, patientenzentrierten Umbau der Gesundheitsversorgung:
- Digitalkompetenz: Ist diese Kompetenz bei Patienten Voraussetzung oder Teil neuer Geschäftsmodelle rund um Digital Health?
- Patient Empowerment: Was braucht es, damit Geschäftsmodelle, die Patienten empowern, auch wirtschaftlich erfolgreich werden?
- Datensouveränität: Wo muss die Hoheit über die Gesundheitsdaten liegen, um nachhaltige Geschäftsmodelle zu etablieren, und wie geht das?
Paradigm of patients must evolve (2)
Die Hoffnungen sind groß, dass Digitalisierung dazu beitragen kann, die Kapazitäten auf Seiten der Patienten viel umfassender als bisher zu stärken. Viele sehen sogar in der Digitalisierung eine nie dagewesene Chance zum echten Paradigmenwechsel, eine Möglichkeit, die Rolle der Patienten im Gesundheitssystem grundlegend neu zu denken. Warum also nicht in Wertschöpfungsmodellen neuer digitaler Gesundheitsservices die Stärkung und Einbeziehung der Patientenkapazität zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal machen und Investoren damit überzeugen? Warum nicht besser herausarbeiten, wie und warum digitalisierte Versorgungslösungen neue „Werteströme“ generieren, die maßgeblich vom Patientennutzen gesteuert werden?
Stimme des Patienten muss lauter werden…
Patienten können schon heute mitreden, die Rechtsgrundlagen dafür sind längst in Patientengesetzen geschaffen (3). Schaut man sich jedoch ganz konkret an, wie viel Gewicht ihre Stimme tatsächlich hat und wie sehr sie ganz praktisch, Tag für Tag von Ärzten und Therapeuten in Entscheidungsfindungen einbezogen werden, macht sich Ernüchterung breit, wie Mina Luetkens die gelebte Praxis aus eigenem Erfahren schildert. Wie ernst das Recht auf Autonomie genommen wird, zeigt sich in dem, was man Patienten zutraut, wie man mit ihnen spricht, ob man ihren Schilderungen glaubt, wenn diese nicht zum therapeutischen Erfahrungsschatz der Behandler passen, oder ob diese als psychisch abgetan werden, nach dem Motto „If your symptoms are not in my book, it is in your head.“ (2)
Digitaler heißt nicht automatisch demokratischer
Die Möglichkeiten, sich mitzuteilen, sich zu informieren, einfacher Zugang zu finden zu Expertenwissen und Versorgungsleistungen – all das kann durch Digitalisierung theoretisch verbessert werden und ein neues Rollenverständnis in der Arzt-Patienten-Beziehung fördern. Es kommt allerdings darauf an, wie man den neuen Digitalisierungsrahmen gestaltet, Digitalisierung wird nicht per se die Medizin demokratisieren, sie ruft vielmehr nach mehr Demokratie und Mitbestimmung und nach mehr Solidarität, wie Mina Luetkens in der Diskussion betont.
Weil Patienten in einem digitalisierten Versorgungssystem, anders als zu Zeiten von Papierakten, Behandlungs- und Versorgungsdaten in großen Mengen generieren, und weil diese Daten so erfasst werden, dass man sie teilen, analysieren und nutzen kann, wächst auch die Notwendigkeit, die Rechte der Bürger im Umgang mit diesen Daten weiter auszuweiten (3, 4, 5). Dem „Urheber“ der Gesundheitsdaten muss eine aktive Rolle innerhalb des Datenökosystems zugewiesen werden, denn nur so kann ein dynamisches und sich selbst tragendes Ökosystem entstehen. Damit diese Rolle auch wahrgenommen werden kann, braucht es wiederum entsprechende technische Lösungen, die dies ermöglichen. In einem nachhaltigen Gesundheitsdatenökosystem lässt sich dann Versorgung neu denken und gestalten:
- Aus den Gesundheitsdaten von Patienten können individualisierte Services und Dienstleistungen in Prävention, Diagnose und Therapie entwickelt werden. Diese können und sollen dem Einzelnen direkt zurückgespielt werden und ihm damit direkt nutzen.
- Fließen die Gesundheitsdaten aller Bürger in einen großen Gesundheitsdatenraum zusammen, können diese sowohl auf der Ebene der gesamten Solidargemeinschaft als auch für bisher benachteiligte Teil- und Randgruppen neue Erkenntnisse liefern, und die medizinische Versorgung für alle verbessern. Ein solcher Gesundheitsdatenraum wird aktuell als initialer Teil der zukünftigen europäischen öffentlichen Dateninfrastruktur (public data infrastructure) auf den Weg gebracht (6). Dessen Gestaltung erfordert dringend innovative (!) Lösungen im Bereich der Regulierung.
Neue Rollen fordern neue Rechte von Patienten
Im zukünftigen europäischen Gesundheitsdatenraum reden Bürger nicht nur mit, wenn es um ihre medizinische Versorgung geht, sondern auch, wenn es um die Gesundheitsdaten geht, die zur gesundheitlichen Daseinsfürsorge genutzt werden. Das Recht auf Datensouveränität, d. h. Selbstbestimmtheit in der Nutzung dieser Daten, auch das Recht auf Nutzung von Algorithmen, die mit den Daten vieler Patienten entwickelt werden, diese erweiterten Rechte sind Voraussetzung dafür, die Kapazitäten von Patienten freizusetzen. Die Digitalisierung ist also nicht per se der Hebel zur Demokratisierung der Medizin, es kommt darauf an, was wir als Gesellschaft daraus machen, wie wir die Rechte des Einzelnen in diesem digitalisierten Versorgungsumfeld parallel dazu ausweiten, z. B. im Hinblick auf die Datennutzung.
Digitale Soziale Marktwirtschaft: Mit den Daten vieler zur Wertschöpfung für alle
Wer Algorithmen entwickelt mit den Gesundheitsdaten vieler, hat die Pflicht, diese solidarisch an die Gemeinschaft zurückzugeben. Marktteilnehmer treten mit diesen Daten in den Wettbewerb um die besten, nutzenstiftenden Services. Nicht die Daten selbst, sondern die Services, die auf diesen Daten aufsetzen, schaffen neue „Wertströme“ in Geschäftsmodellen, die sich wirtschaftlich tragen und Wachstum generieren, so der Tenor der Diskussion. Wir treten ein in eine neue Ära der digitalen, sozialen Marktwirtschaft. „Daten und Algorithmen sind das Soziale, auf dem sich Wettbewerb um gute Dienstleistungen aufbauen kann.“ Die Gesundheitsdaten bleiben in der Hoheit des Einzelnen, als Teil eines kollektiven Gesundheitsdatenraum schaffen sie Nutzen für die Solidargemeinschaft, damit in Zukunft für alle Qualitätsmedizin zugänglich und bezahlbar bleiben kann.
Neue Rollen erfordern neue Fähigkeiten
Patienten zu befähigen, ihre neuen Rechte zu kennen und zu nutzen, setzt die Mitwirkung und das Umdenken Vieler in Politik, Gesellschaft und Gesundheitswesen voraus. Therapeuten müssen erkennen, dass es nicht nur Heilkunst und Wissen ist, das sie zum Wohle der Patienten einsetzen, sondern dass sie der hippokratische Eid in einer digitalisierten Informationsgesellschaft auch dazu verpflichtet, ihr Wissen mit Patienten zu teilen. Nur dann können Bürger das gesetzlich verbriefte Recht auf Autonomie auch in Gesundheitsfragen leben.
Digital zu mehr Patientenautonomie – ein dickes Brett
Und das Bewusstsein dafür zu schärfen und die Rolle des autonomen Patienten mit erweiterten Rechten und Kapazitäten in einem digitalisierten Gesundheitssystem zu stärken, ist eine großen Aufgabe. patients4digital, das Sozialunternehmen von Mina Luetkens, widmet sich zusammen mit Mitstreitern und Unterstützern genau dieser Aufgabe. Gemeinsam wollen sie die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, um die zukünftige Rolle jedes einzelnen zu stärken, so das jeder seine eigene Gesundheitsversorgung selbstbestimmter, selbstwirksamer, autonomer und unabhängiger gestalten kann. Häufig wird im Kontext DiGAs, den neuen digitalen Therapien auf Rezept“, die Frage gestellt: „Was können wir tun, damit Patienten digitale Therapien nutzen?“ Dass sich in dieser Frage ein überkommenes Rollenverständnis zeigt, das weit unter den Möglichkeiten bleibt, die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung für die Stärkung der Ressourcen von Patienten eröffnet, hat die Diskussion im Rahmen des Healthcare Shapers Live Talk mit Mina Luetkens sehr eindrücklich gezeigt. Die Frage, der wir uns stellen müssen, lautet vielmehr: „In welchem (digitalisierten) Versorgungsumfeld müssen DiGas wie umgesetzt werden, damit die Menschen umfänglich von ihnen profitieren können?“.
Wir danken Mina Luetkens, Gründerin von patients4digital für den spannenden Impuls und die lebendige Diskussion. Weiter zu aktuellen Projekten und Aktivitäten von patients4digital.
Quellen
- Mina Luetkens, Gründerin von patients4digital
- Dave deBronkart. E-patient Dave. https://www.linkedin.com/in/epatientdave/
- Patientenrechtegesetz https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/patientenrechtegesetz.html
- Patientendatenschutzgesetz (PDSG) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientendaten-schutz-gesetz.html
- Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG). Digitalisierungsstrategie vorgelegt – BMG (bundesgesundheitsministerium.de)
- Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) (europa.eu)
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk, Patientenorientierung