Human Factor – blinder Fleck in Sachen „Digitale Gesundheit“?
Ein gelungener Jahresauftakt: Pflegebedürftige können Apps auf Kosten der Kassen nutzen. Das elektronische Rezept wird künftig mit einer Online-App in der Apotheke eingelöst. Arbeitsunfähigs-keitsbescheinigungen können elektronisch ausgestellt und an den Arbeitsgeber übermittelt werden. Nicht zuletzt: Die seit mehr als 10 Jahre entwickelte elektronische Patientenakte (ePA) startete im Januar mit einer ersten Live-Version. Die elektronische Patientenakte enthält Arztbriefe, Laborergebnisse, zukünftig auch OP-Berichte und Medikamentenpläne. Ärzte, Krankenhäuser und Patienten sollen vom digitalen Austausch profitieren. Sollen oder können? Wenn sie denn können.
„Digitale Gesundheitsanwendungen haben grundsätzlich ein großes Potential“ [1]
Doch ohne Zugangsmöglichkeiten, Bereitschaft und Kompetenz der Anwender, diese individuell und zielgerichtet zu nutzen, werden sie ihre Wirkung nicht entfalten können. Und diese Hürde betrifft alle – Ärzte, Therapeuten, Personal von Laboren, Krankenversicherungen gleichermaßen wie Patienten und Versicherte.
„Wenn die Digitalisierung die medizinische Versorgung verbessern soll, brauchen wir eine soziale Innovation.“ [2]
Bereits vor anderthalb Jahren stellte die Techniker Krankenkasse in den Ergebnissen ihrer Studie „TK-DiSK: Digital. Selbstbestimmt. Kompetent“ fest, dass neben den technologischen Voraussetzungen (Fähigkeiten, Zugang, ökonomische Möglichkeiten)der „Digitalen Gesundheitskompetenz“ (Digital Health Literacy) zwar ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird, andererseits es kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt. Ein Blick auf die eher geringe Nutzung der Corona-Warn App oder auf die noch wenigen vorhandenen Video-Sprechstunden, zeigt, dass sich seither wenig geändert zu haben scheint. Ein blinder Fleck?
In Sachen Gesundheit haben wir über Jahrzehnte gelernt, das Expertentum zu fördern und die (eigene oder organisationale) Verantwortung abzugeben.
Um den Nutzen der Digitalisierung auszuschöpfen, ist es elementar, dass Patienten und Anwender die Verantwortung wieder zurücknehmen, neu lernen und bereit sind, damit umzugehen. Damit digitale Angebote wie die ePA einen Nutzen für den Einzelnen, die Organisationen und die Gesellschaft bringen, bedarf es einer Transformation von passiven zu aktiven, eigenverantwortlichen Akteuren.
Dabei geht es im ersten Schritt um den Erwerb von Fähigkeiten, die den Prozess der Übernahme der Eigenverantwortung fördern (Empowerment), wie z.B. [3]
- Gesundheitskompetenz: Die Fähigkeit, auf die für sie passende Gesundheitsinformationen zuzugreifen, diese zu analysieren und zu verstehen, um die richtigen Entscheidungen für ihre Gesundheit zu treffen.
- Beteiligung/Teilnahme: die Fähigkeit, Entscheidungen gemeinsam mit dem medizinischen Personal zu treffen und aktive Partner bei der Auswahl von medizinischen Optionen und bevorzugten Verläufen der klinischen Versorgung zu sein.
- Überblick/Kontrolle: Die Fähigkeit, den Überblick über ihr Gesundheitsmanagement zu haben, um ihre Abhängigkeit von Ärzten zu reduzieren und eine bessere Lebensqualität zu erlangen.
- Kommunikation: Die Fähigkeit, effektiv und effizient mit medizinischem Fachpersonal zu kommunizieren. Dies ist ein wechselseitiger Prozess, bei dem z.B. Patienten in der Lage sind, detaillierte Erklärungen zu ihren Symptomen abzugeben, Überlegungen und Präferenzen äußern; das Gegenüber muss ebenso in der Lage sein, dialoghaft zu kommunizieren und auf das Gehörte einzugehen.
- Digitale Kompetenz: Die Fähigkeit, Wissen durch Information und Kommunikation über digitale Medien zu erwerben und zu teilen. Der Zugang zu Wissensressourcen mit Hilfe digitaler Medien, die Integration und das Management des Wissens sowie die Evaluation sind dabei zu berücksichtigen.
Im nächsten Schritt geht es um die Bildung der “Digitalen Gesundheitskompetenz”.
Sie ist weitaus mehr ist als die Summe der o.g. Gesundheitskompetenz und der Digitale Kompetenz. Es geht um den bewussten und selbstbestimmten Umgang mit digitalen Gesundheitsangeboten. Dazu zählen e-Health Apps, Online-Informationen bis hin zum Management der eigenen Gesundheitsdaten. [4]
Erst darauf aufbauend wird ein Wertschöpfungsprozess der investierten Ressourcen möglich sein.
Dann, wenn die Anwender nicht nur die Verantwortung, z.B. für das Management ihrer eigenen Daten übernehmen, sondern auch bereit sind, durch Interaktion, in einem iterativen Prozess mit dem Anbieter/ dem Angebot (Shared Value/ Value Co-Creation), den jeweils für sie größten individuellen Nutzen, den die digitalen Gesundheitsangeboten bieten, auszuloten [5]. Für den Erfolg eines digitalen Gesundheitstools bedarf es zusätzlich
- Partizipationsverhalten: Verhalten während der Tool-Nutzung, wie die Nutzung der Interaktionen, die aktive Suche nach Informationen, das Gestalten des Informationsaustausches, ebenso wie ein verantwortungsbewusstes Handeln und positive Einstellung während der Interaktionen.
- Gemeinwohl-Verhalten: Verhalten über die Anwenderrolle hinaus, die einen Wert für die Organisation und die Gesellschaft darstellen, wie das Geben von Feedback, die Unterstützung anderer Nutzer, Toleranz gegenüber Servicefehlern, Bereitstellung von ausgewählten Daten für Forschungszwecken.

©Eigene Darstellung (in Anlehnung an Forschungsmodell von Russo et. al, Sustainability 2019, 11, 1315)
Es ist es dringend an der Zeit, nun auch den bisher ausgeblendeten „Human Factor“ strukturiert und gezielt mit umfangreichen Investitionen zu stärken.
In den Wechselwirkungen von steigendem Empowerment, einer wachsenden Digitalen Gesundheitskompetenz und eines bewusst gestalteten Shared Value Prozesses kann eine nachhaltige Wertschöpfung der digitalen Anwendungen für die individuelle Gesundheit und des Gesundheitssystems als Ganzes erreicht werden.
Wie das gelingen kann?
Damit beschäftigt sich Dr. Andrea Jahnen, Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers. Sie ist spezialisiert auf Sustainable Healthcare und berät als Expertin für Nachhaltigkeit in der Gesundheitswirtschaft Unternehmen und Verbände.
Quellen
- Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der Krankenkassen, in: Die Pflege soll digitaler werden, FAZ, 21.01.21
- Samerski S, Müller H (2019): Digitale Gesundheitskompetenz in Deutschland – gefordert, aber nicht gefördert? Ergebnisse der empirischen Studie TK-DiSK. ZEFQ 149
- Hinweis: die hier genannten Begriffe beziehen sich auf qualitative Fähigkeiten, die komplexer sind als in diesem Rahmen beschrieben werden kann, zudem sind die Fähigkeiten in ihrer Ausprägung quantitativ kaum messbar.
- Vgl. auch: https://www.tk.de/presse/themen/digitale-gesundheit/e-health-position/digitale-gesundheitskompetenz-2058842
- Vgl. auch Giuseppe Russo, Andrea Moretta Tartaglione and Ylenia Cavacece, Empowering Patients to Co-Create a Sustainable Healthcare Value, Sustainability 2019, 11, 1315; doi:10.3390/su11051315; www.mdpi.com/journal/sustainability diese ReviewStudie hat aufgezeigt, dass es über ein Empowerment von Patienten möglich ist, diese aktiv in den Wertschöpfungsprozess einzubinden
- z.B. https://www.bioconvalley.org/projekte/abgeschlossene-projekte/ic-health
- Veröffentlicht in Digitalisierung, E-Health
Qualität von Gesundheits-Apps: Brauchen wir ein Siegel?
Ob und warum ein Qualitätssiegel für Gesundheits-Apps gebraucht wird, steht immer häufiger im Fokus der Diskussionen von Datenschützern, Ärzteverbänden, Fachgesellschaften und Verbraucherschützern. Sie melden sich zu Wort und stellen Forderungen auf. Viele sehen den Gesetzgeber stärker in der Pflicht, fordern mehr Regulierung. Der derzeitige, gesetzliche Rahmen, den Datenschutz- und Medizinproduktegesetz bieten, scheint nicht auszureichen, um Verbraucher und Patienten vor digitalen Gesundheitsanwendungen zu schützen. Dabei ist doch vieles bereits geregelt, möchte man meinen. In der globalen Welt, die nicht Halt macht an nationalen Grenzen, liegt eine der großen Herausforderung in der Durchsetzung dieser Gesetze.
Regulierung – ein wirksames Antidot für Intransparenz?
Resultiert die Forderung nach Regulierung und Reglementierung aus dem Wunsch, die unübersichtliche Angebotsvielfalt einzudämmen auf ein Maß, das kontrollierbar ist? Sehen sich Leistungserbringer und Kostenträger zunehmend verunsichert durch den Ruf von Verbrauchern und Patienten nach Kontrolle über die eigene Gesundheit und die eigenen Gesundheitsdaten, durch ihren beherzten Griff zu digitalen Präventions-, Selbstbefähigungs-, Diagnose- und Therapieoptionen? Sicher wecken digitale Angebote, die rundum-die Uhr und individuell Hilfe bieten, neue Ansprüche, und verschieben möglicherweise die Kräfteverhältnisse in Richtung Patient. Was in vielen anderen Lebensbereichen bereits selbstverständlich ist, der Griff auf digitale Helfer, um mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten, Wissen abzurufen, Produkte zu kaufen, Services zu buchen, Anbieter zu bewerten, könnte bald auch im Gesundheitsbereich Einzug halten. Warum nicht auch das Smartphone nutzen, um mit Therapeuten zu chatten, Rezepte einzulösen oder Arzneimittel zu bestellen. Warum den inneren Schweinhund nicht digital überlisten, um Gesundheitsziele besser zu erreichen? „Der Geist ist aus der Flasche!“ Der Patient, der geduldig wartet, der sich damit arrangiert hat, die Sprache seines Arztes nicht verstehen zu können, scheint nach und nach durch eine neue Generation der Selbstoptimierer, der Daten- und Informationssammler abgelöst zu werden mit Anspruch auf medizinische Versorgung – jederzeit und überall. Und um diese Patienten vor den Gefahren durch Gesundheits- und Medizin-Apps zu schützen, fordern Datenschützer und Standesvertreter jetzt Gütesiegel ein, die Qualität sichtbar machen sollen.
Reale Gefahren kennen und mit Augenmaß steuern
Die Bedrohung der Patientensicherheit durch Gesundheits-Apps: Wie groß ist sie tatsächlich? Wie viele Menschen sind bisher zu Schaden gekommen? Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zur unzureichenden Validität von Diagnose- und Symptomcheckern (1,2,3,4) und Schrittzählern (5), zu einer beliebten Blutdruck-App, die zu niedrige Werte ausgab und deshalb vom Markt genommen wurde. Es gibt Untersuchungen von Verbraucherschutzverbänden, die beklagen, dass Nutzer nicht explizit auf die Bedeutung der ärztlichen Abklärung vor Nutzung einer App hingewiesen werden. In den USA wurden einzelne Apps, die durch irreführende Wirkversprechen aufgefallen sind, vom Markt genommen. Angesichts der Vielzahl der App-Nutzer und Anwendungen, ist die Zahl der geahndeten Verstöße erstaunlich gering (6).
Auch in Deutschland ist es rechtlich unzulässig, wenn Anbieter in der Bewerbung ihrer Apps Wirkversprechen kommunizieren, die die Therapie oder Diagnose von Krankheiten betreffen, ohne dass diese Apps ein entsprechendes Konformitätsverfahren als Medizinprodukt durchlaufen haben. Gemäß § 3 Nr. 10 MPG ist für die behördliche Einstufung als Medizinprodukt jene Zweckbestimmung entscheidend, die der Anbieter in Gebrauchsinformationen und Werbematerialien (z. B. Website, App-Store-Information) zum spezifischen Produkt auslobt. Ein Haftungsausschluss im Kleingedruckten „Diese App ist kein Medizinprodukt“ schützt den Anbieter daher nicht vor Rechtsfolgen. Allerdings ist über Verstöße, die vom BfArm in Deutschland erkannt und geahndet worden sind, nichts bekannt. Auch keine Meldungen aus den sog. Surveillance-Programmen, die für Medizinprodukte verpflichtend sind, um Sicherheitsprobleme oder Schadensfälle im Zusammenhang mit der Nutzung einer App zeitnah zu erkennen und darauf im schlimmsten Fall mit einem Rückruf der App reagieren zu können. Das heißt nicht, dass von Gesundheits-Apps und Medizin-Apps nicht grundsätzlich Gefahren ausgehen. Fehl- oder Falschinformation, fehlerhafte Berechnungen oder Algorithmen, Verletzungen der Privatsphäre und unzulässige Nutzung gesundheitsbezogener persönlicher Daten – das alles sind potentielle Risiken. Diese durch einen Prüfprozess sicher auszuschalten, ist ein wünschenswertes Ziel. Die Spreu vom Weizen zu trennen und sichere und vertrauenswürdige Apps nach einem sorgfältigen Prüfprozess als solche mit einem Gütesiegel kenntlich zu machen, wäre ideal. Die Frage ist, ob und wie das möglich ist. Absolute Sicherheit wird es auch nach sorgfältigster Prüfung nicht geben, wer diese anstrebt, sollte auf die Nutzung von Gesundheits- und Medizin-Apps besser ganz verzichten.
Prä-digitale Ära: Nicht alles war besser!
Beim prüfenden Blick auf Gesundheits- und Medizin-Apps darf nicht vergessen werden, dass die Arzt-Patienten-Kommunikation auch ohne die Nutzung von Apps nicht frei von Fehlern ist. Viele Menschen kommen täglich aufgrund von Mängeln in der Kommunikation bezüglich ihrer Arzneimitteltherapie zu Schaden. Mit der Digitalisierung verbindet sich die Hoffnung, Kommunikationslücken zu schließen und Arzneimittelsicherheit zu verbessern, ein entsprechendes Modul (AMTS) ist daher als fester Bestandteil der Telematikinfrastruktur (TI) eingeplant.
Etablierte Qualitätskriterien haben weiterhin Bestand
Die Forderung nach einem Gütesiegel ist eng verknüpft mit der Frage, welche Qualitätsanforderungen eine solches Siegel stellen sollte. Aus der prä-digitalen Ära gibt es Kriterien für Gute Gesundheitsinformationen (7), die auch eine gute Gesundheits-Apps erfüllen sollte. Dazu zählen
- Unabhängigkeit, Fundiertheit und Relevanz von Gesundheitstipps und Unterstützungshilfen. Um dies einschätzen zu können, ist die transparente Offenlegung der hierfür erforderlichen Angaben des Anbieters notwendig.
- Evidenz der Empfehlungen. Der Evidenzgrad einer Empfehlung geht auf wissenschaftlich Belege zurück.
- Verständlichkeit der Aussagen, d. h. verständlich für die Patienten, an die sich die Information bzw. der Service richtet.
Erweiterter Qualitätsbegriff im digitalen Zeitalter
Bei digitalen Anwendungen wird Qualität darüber hinaus auch durch die sog. Anwendungsfreundlichkeit (Usability) bestimmt, d. h. die App muss einfach bedienbar sein und den Nutzer ansprechen (User Experience), um genutzt werden zu können. Nur dann wird sie nachhaltig genutzt und kann zur Erreichung langfristiger Gesundheitszielen beitragen.
Schutz und Sicherheit der Gesundheitsdaten: Ganz sicher eine Qualitätsdimension
Ausgetauscht wurden Patientendaten schon immer, mehrheitlich zwischen Therapeuten per Fax oder Brief, allerdings nicht in dem Ausmaß und nicht so einfach, wie das die Digitalisierung möglich macht. Auch diese Kommunikationskanäle konnten und können Datenverluste und Verletzung der Privatsphäre nicht ausschließen.
Durch das Aufzeichnen, Sammeln, Teilen und Versenden von Daten aus der Lebenswirklichkeit des Patienten mit Apps, Smartwatches und Wearables bricht die Big-Data Ära an: Zukünftig werden riesige Datensammlungen generiert (Big Data), von deren Auswertung sich die Wissenschaft neue Erkenntnisse und die Wirtschaft die Chance zur Entwicklung neuer Dienstleistungsangebote erwartet. Das weckt Begehrlichkeiten. Die Herausforderung wird es sein, intelligente Datenschutzkonzepte (z. B. Blockchain-Technologien) zu entwickeln, die den Patienten als Datencontroller in den Mittelpunkt stellen, ihm eine digitale Identität geben und ihn für seine neue Rolle qualifizieren. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bleibt auch im digitalen Zeitalter die entscheidende Zielgröße, die Wege der Umsetzung müssen neu gedacht werden. Aus diesem Grund wird die Qualität einer Gesundheits-App auch entscheidend von der Sicherheit des Austausches der mit ihre erhobenen Gesundheitsdaten bestimmt.
Qualität in der Regelversorgung fordert Nutzennachweis
In Deutschland gibt es keine App, die den Sprung in die Regelversorgung bisher geschafft hat, d. h. die auf Rezept von einem Arzt verordnet und den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse aufgenommen wird. Einige wenige Apps werden im Rahmen von Selektivverträgen (SGB V, §145a) erstattet (8). Welche Apps überhaupt dazu geeignet sind, behandlungsbedürftige Zustände aussichtsreich zu behandeln oder zu verhindern, so dass deren Einsatz bei vertretbarem Risiko einen gesundheitlichen Netto-Nutzen erwarten lassen, muss durch akzeptierte, wissenschaftliche Evaluationsmethoden belegt werden. Wie dieser Nutzennachweis methodisch geführt werden kann, beschäftigt die Versorgungsforschung. Die CE-Kennzeichnung jedenfalls lässt keine Rückschlüsse auf den Netto-Nutzen einer App zu, da das erforderliche EU-Konformitätsprüfverfahren diesen Nutzen gar nicht abprüft.
Gütesiegel – für welche Gesundheits-Apps?
Auf welche Apps sich diese Gütesiegel beziehen soll, bleibt in den Forderungen der ärztlichen Fachgesellschaften, der Datenschützer und der Verbraucherverbände häufig unklar. Bisher gehören Maßnahmen der Primärprävention nicht zum Hauptfokus der Ärzte, die Diagnose und Therapie steht im Mittelpunkt. Apps, die Therapie und Diagnose unterstützen, benötigen eine CE-Zertifizierung, d. h. sie sind als Medizinprodukte deklariert. Bisher sind das nur sehr, sehr wenige (9). Soll sich ein Gütesiegel nur auf diese wenigen Apps beschränken, wird es nicht wirklich zur Orientierung für die vielen Verbraucher und Patienten beitragen können.
Soll ein Gütesiegel auch auf Apps angewendet werden, die auf die Veränderung verhaltensbedingter Risikofaktoren abzielen, die z. B. Unterstützung beim Raucherausstieg, bei der Gewichtsabnahme bieten oder die motivieren zu einem bewegteren Lebensstil? Sinnvoll wäre eine Übersicht über Apps, die hier wirksame Hilfe bieten, schon. Schließlich lässt sich die Entstehung vieler Krankheiten mit hoher Krankheitslast in Deutschland und anderen Industrienationen mindestens teilweise auf lebensstilbedingte Risikofaktoren zurückführen (10). Die Herausforderung wird es sein, diese Apps zu identifizieren, denn das Angebot an Ernährungs-, Bewegungs- und Raucher-Apps zu prüfen, ist weit aufwändiger, weil die Zahl dieser Apps deutlich größer ist.
FAZIT: Es ist Zeit, von der Diskussions- zur Handlungsebene zu kommen, sich im Detail mit den praktischen Hürden in der Umsetzung von Forderungen zu beschäftigen und daraus gangbare Wege abzuleiten (11). Weil nur von einem bekannten und sichtbaren Gütesiegel die gewünschte Orientierung ausgehen kann, ist ein Schulterschluss aller Akteure und eine Bündelung ihre Ressourcen wünschenswert. Nicht jeder muss alle Erfahrungen selber machen und nicht alles ist neu, nur weil es digital ist. Es gibt eine ganze Reihe von Qualitätskriterien, die aus der prä-digitalen Welt stammen (7) und auf Gesundheits-Apps übertragen werden können (12). Und es gibt fundierte, unabhänge Expertise aus der systematischen Analyse des App-Angebotes in Deutschland, die man nutzen kann, um Verbrauchern, Patienten und Therapeuten die geforderte Orientierung zeitnah geben zu können (13, 14).
Die Autorin Dr. Ursula Kramer ist Expertin für Digital Health im Beraternetzwerk der Healthcare Shapers. Die Gründerin der größten Qualitätsplattform für Gesundheits- und Medizin-Apps in Deutschland berät Unternehmen der Gesundheitswirtschaft bei der Entwicklung ihrer digitalen Produkt- und Serviceportfolios und erstellt unabhängige App-Expertisen und Benchmark-Analysen für Gesundheits- und Medizin-Apps. Als Präsidentin des Vereins HealthOn engagiert sie sich für die Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz (Digital Health Literacy) von Verbrauchern und Patienten und Healthcare Professionals, denn ohne die Fähigkeit, digitale Gesundheitsanwendungen zum eigenen Wohl und selbstbestimmt zu nutzen, werden sich die großen Erwartungen auf mehr Qualität, Effizienz und Patientenorientierung im digital umgebauten Gesundheitssystems ihrer Meinung nach nicht realisieren lassen.
Quellen
- Wolf J., Moreau J., Akilov O. et al. Diagnostic Inaccuracy of Smarthphone Applications for Melanoma Detection, in: JAMA Dermatol., 149 (4). S. 422-426.
- Kassianos A.P., Emery J. D., Murchie P, Walter F. M. (2015). Smartphone applications for melanoma detection by community, patient and generalist clinician users: a review*. British Journal of Dermatology
- Semigran Hannah L, Linder Jeffrey A, Gidengil Courtney, Mehrotra Ateev. Evaluation of symptom checkers for self diagnosis and triage: audit study BMJ 2015; 351 :h3480
- Plante TB, Urrea B, MacFarlane ZT, et al. Validation of the Instant Blood Pressure Smartphone App. JAMA Intern Med. 2016;176(5):700-702. doi:10.1001/jamainternmed.2016.0157.
- Kooiman T et al. (2015). Reliability and validity of 10 consumer activity trackers. BMC Sports Sci Med Rehabil. 2015; 7: 24.
- Healthon 9/2015. Klage gegen Medizin-App, die Sehkraft verbessern soll.
- EbM Netzwerk & Universtität Hamburg. Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation. Version 1.0. Erstellungsdatum 20.02.2017
- Healthon 8/2017. Kassenverträge für Gesundheits-Apps: Per aspera ad astra.
- Kramer, U. Wie gut sind Gesundheits-Apps? Aktuel Ernahrungsmed 2017; 42(03): 193-205. DOI: 10.1055/s-0043-109130
- Plass D et al. Trends in disease burden in Germany – results, implications and limitations of the Global Burden of Disease Study. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 629–38. DOI: 10.3238/arztebl.2014.0629
- Kramer, U. Lernen von Portalen weltweit. E-HealthCom 6/2017
- HealthOn-Ehrenkodex für Gesundheits-Apps
- HealthOn: Gesundheits-Apps: Noch mehr Transparenz für Verbraucher. Juli 2017
Datenschutz hat auch mit Interessenschutz zu tun: Interview mit Dr. U. Kramer Operation Gesundheitswesen. Der gesundheitspolitische Informationsdienst. OPG 17-29
- Veröffentlicht in Digitalisierung, E-Health