DeepTech Startup: Wenn Technik auf Business trifft…
Alle Welt spricht heutzutage über Startups und Innovation. Warum Existenzgründung und Startups nicht in einen Topf gehören, und was es ganz konkret bedeutet, ein Unternehmen von null aufzubauen, darüber spricht Uli Harnacke, Führungskräftecoach und Organisationsberater mit Dr. Markus Riester, Entrepreneur und Business Angel, der am Aufbau mehrerer DeepTech Startups beteiligt war. Beide sind Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers.
Dr. Markus Riester hat viel Erfahrung gesammelt als Gründer technologiebasierter HealthTech Startups. Er weiß nicht nur, wie man dreidimensionale Strukturen im 100-Nanometer-Maßstab erzeugen und damit Zellkulturen „glücklich machen“ kann, sondern auch, wie man komplizierte Labordiagnostik ins Wohnzimmer der Menschen bringt, um z. B. Corona-Viren mit der Genauigkeit eines PCR-Test nachzuweisen. Gemeinsam mit weiteren Gründern hat er während der Corona-Pandemie die midge medical GmbH aufgebaut. Das Unternehmen hat einen mobilen DNA-Test entwickelt, der innerhalb von ca. 20 Minuten zuverlässige Ergebnisse liefert.
„Die Idee haben wir in 3,5 Wochen so überzeugend ausgearbeitet, dass wir einen Investor gewinnen konnten.“
Dr. Markus Riester
Die Technologie wurde dann über einen Zeitraum von 26 Monaten entwickelt. Das Produkt wird inzwischen nicht nur für den Nachweis von Corona-Viren, sondern auch für weitere Pathogene angeboten.
„Bei DeepTech Startups treffen Technik und Business aufeinander, d. h. eine Basistechnologie wird in ein Produkt hineinentwickelt, um das Problem eines Kunden zu lösen“, erklärt Markus Riester. Die Frage „Wie komme ich zu einem erfolgreichen Produkt?“ ist dabei immer eng verknüpft mit der Frage „Wie schaffe ich es, die richtigen Menschen zu finden und zu motivieren, die am Aufbau einer Organisation mitwirken?“ Wenn das im hochregulierten Marktumfeld der In-vitro-Diagnostik geschieht, braucht es neben den Experten für die technischen Systeme, für Personal- und Organisationsentwicklung auch erfahrene Quality Spezialisten. „Und es gibt jede Menge Arbeit, die getan werden muss. Die Wege zum Ziel sind dabei vollkommen offen. Denn Prozesse und Arbeitsorganisation sind genauso neu zu gestalten und aufzubauen, wie das Produkt selbst, das entwickelt wird.“
Was sind die Erfolgsfaktoren, und warum braucht es auch einen Plan „E“ – d. h., eine Exit Strategie? Was ist wichtig, um die Zusammenarbeit von Startups und mittelständischen Unternehmen anzubahnen und von den Vorteilen startup-ähnlicher Strukturen in größeren Unternehmen zu profitieren?
Dazu mehr im Interview mit Dr. Markus Riester, der über kundenorientierte Entwicklung von Produkten über Skalierungsperspektiven, Personalsuche und den ab-initio Aufbau von Organisationen spricht.
Das Interview wurde in der Buderus Arena Wetzlar aufgezeichnet … eine coole Location.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Strategie
Health Data – transatlantisch austauschen & voneinander lernen
Das Bundesgesundheitsministerium hat führende Wissenschaftler, Politiker, Ärzte und Ethiker zur Data for Health Conference 2023 (1) gebeten, um gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie sich Gesundheitsdaten innerhalb und außerhalb der europäischen Grenzen besser nutzen lassen. Auch zwei Experten aus dem Kreis der Healthcare Shapers waren eingeladen, Mina Luetkens und Günther Illert, der Gründer des Netzwerks.
Prof. Karl Lauterbach hob in seiner Einführung hervor, dass in Deutschland demnächst die Daten von 150.000 Praxen, 20.000 Apotheken, 2.000 Krankenhäusern und 70 Millionen Versicherten für die Forschung zur Verfügung stünden, wenn die geplanten Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zur Digitalisierung der Gesundheitsversorgung greifen. Die exponentielle technische Entwicklung, etwa bei großen Sprachmodelle wie ChatGPT mache die Auswertung dieser medizinischen Daten immer einfacher und intuitiver, was neue Chancen für den Erkenntnisgewinn in Forschung und Versorgung durch Nutzung von Gesundheitsdaten eröffnete.
Gemeinsam mit Prof. Jochen Lennerz von der Harvard Medical School in Boston (USA) hat Karl Lauterbach die hochkarätig besetzte Konferenz zum transatlantischen Austausch initiiert. Beispiele aus den USA sollten verdeutlichen, welchen Nutzen die Auswertung medizinischer Daten schon heute mit sich bringt. Bereits kleinste genetische Schnipsel genügten, so Lennerz, um Erkrankungsrisiken und die Erfolgswahrscheinlichkeiten von Therapien selbst für sehr seltene Erkrankungen zu prognostizieren. In Deutschland könne derzeit von systematischer Datennutzung aber noch kaum die Rede sein, Daten lägen hier häufig noch unsortiert auf „DDR-Dachböden“. Von den unglaublichen Schätzen, die dort schlummern, wisse kaum jemand und der Zugang zu diesen Daten sei extrem schwierig (2). Auf der anderen Seite bestünde ein großer Bedarf: Alleine in Deutschland erkranken jedes Jahr rund 500.000 Menschen neu an Krebs. Die Notwendigkeit, Gesundheitsdaten für bessere Therapieentscheidungen und eine schnellere Versorgung dieser Patienten zu nutzen, ist damit höchst relevant. Wer soll wie auf Gesundheitsdaten zugreifen können und welche ethischen Grundsätze sind dabei maßgeblich? Wie kann aus dem heutigen Flickenteppich an Regeln ein einheitlicher regulatorischer Rahmen entstehen, der diesseits und jenseits des Atlantiks verbindlich angewendet werden kann? Wie lässt sich das mit dem im Aufbau befindlichen European Health Data Spaces (3) verzahnen?

Wir brauchen einen “pre-competitive space”
Diese Fragen diskutierten am 20. und 21. Juni rund 300 geladene Experten in Berlin und im Live-Stream. Neben den hochkarätig international besetzten Paneldiskussionen wurden in parallelen Workshops konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet. Rund 30 Forschungsprojekte wurden vorgestellt und diskutiert, die mit Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) die Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft vorantreiben. Diesen „pre-competitive Space“ brauchen wir, damit es zu einem echten Austausch komme, betonte Lennerz. Die Data for Health Conference 2023 beginne daher dort, wo die meisten anderen Konferenzen aufhören, mit einem intensiven Dialog, der im Herbst in Boston fortgesetzt werde.
Deutschland – Chance auf modernste Dateninfrastruktur Europas
Das Timing sei entscheidend, betonte Lauterbach. Als die Konferenz geplant wurde, war der Hype um ChatGPT noch nicht absehbar, der rasante technologische Fortschritt und die von seinem Ministerium gerade vorgelegten Entwürfe zum Digitalgesetz, zum Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) und zum Digitalagenturgesetz böten Deutschland jetzt die Chance, die modernste Dateninfrastruktur in Europa aufzubauen.
Mehr Demokratisierung des Gesundheitswesens
Mina Luetkens, u.a. Gründerin von Patients4Digital (4), seit wenigen Wochen Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers, setzt sich leidenschaftlich für die Demokratisierung des Gesundheitswesens ein. Im Panel „AI Applications and Innovation“ stellte sie die Frage, wie der Wert (Value) von KI-Anwendungen beurteilt und wie das Konzept von Value-based Healthcare (VBHC) im Zusammenhang mit KI umgesetzt werden könne. Die vier Säulen von Value-based Healthcare (personal, technical, societal and allocational) (5) in Balance zu halten, sei im Kontext der Daten, die man dafür erfassen und verarbeiten müsse, besonders herausfordernd.
Die Antworten der hochkarätigen Panellisten zeigen die Vielschichtigkeit des Themas:
- Giorgio Quer (Scripps Research Translational Institute) erklärte, der wichtigste Wert, den wir bieten müssen, sei der Wert für die einzelnen Beteiligten. Das bedeute, dass alle zunächst Zugang zu Daten erhalten, die sie sonst vielleicht nicht hätten, und dass alle Informationen, möglicherweise auch in verarbeiteter Form, an die Beteiligten zurückgespielt werden müssen. „We want the participant to be engaged with whatever we do“, war sein Schluss-Statement und ganz im Sinne von Mina Luetkens, die sich für ein partizipatives Gesundheitswesen engagiert.
- Charlotte Tschider (Loyola University Chicago School of Law) fordert, dass die Frage nach dem Wert eng mit der Frage verknüpft werden muss “Was ist gut genug?”, um messbare Verbesserungen zu erzielen und diese im Laufe der Zeit weiter optimieren zu können.
- Sebastian Schneeweiss (Harvard Medical School) sieht eine wesentliche Herausforderung darin, diese neuen Technologien, die auf den Markt kommen, zu bewerten. Seiner Meinung nach werde man mit sekundären Daten arbeiten. Er betont, dass Studien echte kausale Zusammenhänge aufzeigen müssten, anstelle bloßer Korrelationen, nicht nur bei Wirksamkeit und Sicherheit, sondern auch bezüglich des Nutzens und des „Values“.
- Für Norman Zerbe (Charité – Universitätsmedizin Berlin) stellt die rein monetäre Betrachtung eine große Hürde dar, wenn wir KI-Anwendungen in die klinische Routine bekommen wollen. Insbesondere in Deutschland müsse man im DRG-System (DRG = Diagnosis-related Groups) nachweisen, dass Prozesse, die Algorithmen nutzen, kostengünstiger seien, als solche, die ohne arbeiten. “So what does it mean? You proof that you save the money for a pathologists or some lab technicians? Or that you are quicker or that you are actually improving quality? Especially the last two ones are very hard to measure. So the question is: How can we do this?” Das DRG-System sei seiner Meinung nach problematisch, und er fordert zusammen mit den Kostenträgern und der Regierung eine Diskussion darüber zu führen, wie dieses Hindernis überwunden werden kann.
Value-based Healthcare – “gemeinsamer Strang” für alle Stakeholder
Die Antworten der Experten verdeutlichen, warum Value-based Healthcare der vielgeforderte „Northstar“ sein könnte, den wir für die bevorstehenden Umwälzungen und Neuordnungen in der Gesundheitsversorgung brauchen. „Diese Konzept ist quasi der “gemeinsame Strang”, an dem alle Stakeholder ziehen können. „Value-based Healthcare“ bedeutet einen Wertewandel. Bei der Umsetzung im Sinne der Vier-Säulen-Definition werden wir um einen gesellschaftlichen, demokratischen und partizipativen Diskurs nicht herumkommen,“ ist Mina Luetkens überzeugt.
Fazit aus Sicht der beiden Healthcare Shapers: Die Data for Health Conference 2023 – eine lohnenswerte Veranstaltung – zeitlich leider parallel zur Bits & Pretzels, aber der Geist des Kongresses stimmt zuversichtlich. Let’s shape healthcare – together!
Quellen:
- https://projekttraeger.dlr.de/media/events/dfh23/index.html
- https://www.youtube.com/watch?v=QhFi2YW0dmI&t=3s
- https://health.ec.europa.eu/ehealth-digital-health-and-care/european-health-data-space_en
- https://patients4digital.com/
- https://health.ec.europa.eu/document/download/eda2e039-5459-4d75-bdfd-f44ca3b76275_en?filename=2019_defining-value-vbhc_factsheet_en.pdf
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Health-IT
It´s Bits & Pretzels time!
Wenn sich Tech und Health treffen, dann putzt sich München heraus für das Event der europäischen Digital Health Szene. Die Bits & Pretzels lockt Gründer:innen und Gründungswillige aus aller Welt in die bayrische Metropole.
Das Event kommt größer, bunter & cooler daher, als alles, was die Gesundheitswirtschaft hierzulande sonst so kennt. Mit mehr als 2.500 Teilnehmer über 400 Investoren und mehr als 100 Ausstellern glänzt die Bits & Pretzels auch knapp 10 Jahre nach ihrer Gründung erneut mit Superlativen. Auch zwei Partnerinnen aus dem Netzwerk der Healthcare Shapers waren in München dabei. Wir haben sie gefragt nach ihren persönlichen Highlights.
Aufbruch, Umbruch… und endlich auch Durchbruch in Sachen Digital Health?
Der Blick auf das deutsche Gesundheitswesen ist weniger schillernd: Wir digitalisieren schon lange, nur beim Patienten kommt von den Ideen, Produkten und Services der vielen HealthTech Gründer:innen fühlbar noch wenig an. Daher werden sich auch die Leistungserbringer und Patienten im Publikum des Bits & Pretzels Stelldicheins vermutlich ein bisschen wie auf einem anderen Stern gefühlt haben. Die Brücke zwischen Tech und Health ist wohl immer noch ein schmaler Grat, auf dem nur die „klügsten Köpfe der Europäischen HealthTech Branche“ souverän jonglieren können.
Anne Kilburg, aus vielen Jahren Pharmaindustrie als Market Access Expertin und Gesundheitsökonomin kennst Du das Versorgungssystem sehr gut.
In den letzten Jahren hast Du dich mit Deinem Unternehmen auf Digital Health Consulting spezialisiert, willst daran mitwirken, die Potentiale der vielen HealthTech Innovationen für eine bessere Patientenversorgung zu heben. Was hat Dich am meisten beeindruckt?
- Der Auftritt von Michael J. Fox. Er nutzt seine Bekanntheit als Schauspieler und betroffener Patienten mit Parkinson in beeindruckender Weise. Er macht sich stark für mehr patientenzentrierte Forschung und Behandlungskonzepte. Wer ihn gehört hat, dem wird klar: Innovationen zu entwickeln, ohne die Erfahrungen der Patienten von Beginn an einzubeziehen, ist ein klares No-Go.
- Die gut besuchte Session vom Start-up Inflo Health. Auch diese Diskussion hat deutlich gemacht, wie wichtig ein stärkerer Fokus auf „Patienten-geführte“ Innovationen ist und warum die Rolle von Patient Communities und Patient Advocacy im Co-Creation-Prozess von innovativen digitalen Gesundheitslösungen von zentraler Bedeutung ist. Wir brauchen die Perspektive der Patienten, um die Akzeptanz und den Nutzen dieser Lösungen zu verbessern und so den Zugang zu personalisierter Medizin zu erleichtern.
- Die zunehmende Vernetzung auf europäischer Ebene. Sie wird maßgeblich angetrieben von EIT Health, einem der beiden Gründungspartner der Bits & Pretzels mit Hauptsitz in Paris. Mit dem aktuellen Launch eines deutschen Büros, dem Future4Care Accelerator, sollen Digital Health Startups fit gemacht werden für den Erfolg im europäischen Markt, das ist sehr gut, auch für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland.
Was hat gefehlt?
- Die Leistungserbringer-Seite war kaum vertreten. Es braucht hier mehr Begegnung und Verzahnung von Technologie und den Akteuren, die die medizinischen Leistungen erbringen. Wir brauchen den engen Austausch mit Ärzten, Therapeuten und Pflegeberufen, um die digitalen Innovationen zur Verbesserung der Patientenversorgung erfolgreich zu implementieren.
- Das Thema “Evidenz und Nutzennachweis” kam aus meiner Sicht auch zu kurz. Wir müssen viel mehr über Nutzennachweis sprechen, über die Erwartungen an diese Nachweise aus der Perspektive aller Stakeholder und auch über die Möglichkeiten, im Prozess der Evidenzgenerierung stärker digitale Tools und Biomarker zu nutzen. Denn es sind eben nicht nur regulatorische Behörden und die Krankenversicherer, sondern in erster Linie Ärzte, Therapeuten und Pflegefachkräfte, die von der Nutzung digitaler Lösungen im Behandlungs-Alltag überzeugt sein müssen, um sie dann auch bei ihren Patienten einzusetzen.
Ein besonderes Highlight der Bits & Pretzels
Inga Bergen. Du warst als Speaker, Founder & Business Angel in vielen Funktionen vor Ort.
Mit Deinem Unternehmen „Visionäre der Gesundheit“ (VdG Media) legst du den Fokus bekanntermaßen auf die Menschen, die etwas bewegen, die Innovationen in der Gesundheitsversorgung vorantreiben. Was war für Dich das besondere Highlight der Bits & Pretzels 2023?
- Die Auszeichnung von Michael J. Fox mit dem „Frontier-Award“. Das war ein wirklich besonderer Moment. Der ikonische Schauspieler aus “Zurück in die Zukunft” wurde für seine herausragenden Beiträge zur Parkinson-Forschung ausgezeichnet. Er hat mich und ich glaube alle, die da waren, zutiefst beeindruckt. Auch Eckhart von Hirschhausen, der die Laudatio gehalten hat, war sichtlich berührt. Michael J Fox hat viel von Dankbarkeit ‚Gratitude’ gesprochen – Dankbarkeit macht uns auf Dauer glücklich und ermöglicht uns, auch in schwierigen Zeiten optimistisch zu bleiben. Er sagt: Ich möchte Parkinson nicht für mich selbst heilen, sondern für die Menschen in der Zukunft. Über eine Milliarde Dollar hat er in den letzten 23 Jahren für die Forschung eingesammelt und gesagt, das sei das Größte, was er im Leben erreicht hat. Heute steht die von ihm gegründete Michael J. Fox Foundation als weltweit größter privater Förderer der Parkinson-Forschung da, die wegweisende Forschungsprojekte unterstützt. Michael J. Fox’s unerschütterliche Hingabe an die Parkinson-Gemeinschaft ist eine echte Inspiration. Sein Engagement für wissenschaftliche Fortschritte und die Verbesserung des Lebens der von dieser Krankheit Betroffenen verdient höchste Anerkennung.
Vielen Dank an Anne Kilburg und Inga Bergen, beide sind Partnerinnen im Netzwerk der Healthcare Shapers und Expertinnen für Digital Health, die ihre Eindrücke von der Bitz & Pretzels 2023 mit uns geteilt haben.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Health-IT, Patientenorientierung
Gesundheitsdaten – Schlüssel zur besseren Prävention und Versorgung
Technologische Entwicklungen wie etwa Künstliche Intelligenz (KI) oder die Digitalisierung oder Miniaturisierung von Sensoren ermöglichen der Wissenschaft, komplexe medizinische Herausforderungen durch neue Erkenntnisse aus immer mehr Daten anzugehen. Den Akteuren in der Gesundheitsversorgung fällt es nach wie vor schwer, diese Daten abzugreifen und dann auch zu nutzen, wie der Healthcare Movers Germany Report, ein Bestandsaufnahme zur digitalen Wettbewerbsfähigkeit der Gesundheitswirtschaft zeigt (1).
The Power of Healthcare Data
Wie kann es gelingen, die an vielen Stellen in den Lebenswelten der Menschen und den medizinischen Versorgungspfaden unserer Gesundheitssysteme generierten Daten strukturiert zu erfassen und zu nutzen? Wie schaffen wir es, auf Grundlage von Datennutzung neue und individualisierte Präventions- und Behandlungsansätze voranzutreiben, um die Patientenversorgung zu verbessern und die Effizienz unserer Gesundheitssysteme zu steigern?
Crack Complexity – Unleash Potential
Diese Fragen standen beim Executive Roundtable: Power of Healthcare Data am 11. Mai in Frankfurt im Fokus. Das Treffen wurde vom Beraternetzwerk der Healthcare Shapers und Morgan Philips (2) initiiert und von Günther Illert, dem Gründer der Healthcare Shapers, moderiert (3).
Durch Kollaboration gewinnen
Kein Unternehmen für sich allein kann heute das volle Potenzial der Gesundheitsdatennutzung im Gesundheitswesen ausschöpfen. Die Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers beschäftigen sich daher nicht nur mit der smarten Nutzung von Daten für die Gesundheitswirtschaft, sondern schaffen Vernetzungen, die Kollaborationen ermöglichen — über Unternehmens- und Sektorengrenzen hinweg, zwischen den smartesten Player der IKT-Branche (IKT = Informations- und Kommunikationstechnologien) und den innovativen, wachstumsstarken Biotech-, Pharma- und Life Science Playern.
Aus dieser Motivation heraus haben die rund 50 Entscheider beim Excecutive Roundtable über Chancen, den potenziellen Nutzen und die Power von Healthcare Data diskutiert. Die Akteure aus Medizintechnik, Pharma, Startups, Krankenhäusern und Kostenträgern suchen allesamt nach Wegen, die Datenvielfalt im Healthcare Bereich effizienter zu nutzen und Mehrwerte mit Daten zu generieren.
Drei Experten haben in ihren kurzen Impulsen Erfahrungen geteilt, um mögliche Lösungsansätze mit den anwesenden Entscheidern zu diskutieren.
Quantensprung in personalisierter Medizin durch bessere Gesundheitsdatennutzung
Fernando Andreu, CEO des Biotech Unternehmens 2cureX (4) leistet Pionierarbeit mit seinem Unternehmen, das die 3D-Darstellung von Tumoren nutzt, um daraus die individuelle Sensitivität von Krebspatienten gegenüber verschiedenen Therapeutika einschätzen zu können. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich in der Medizintechnikbranche mit Passion dafür ein, technologische Innovationen auf den Markt zu bringen, insbesondere in der Onkologie. „Unternehmen kombinieren heute sehr geschickt und smart Daten aus klinischen Studien mit Real World Daten aus der Lebenswelt von Patienten, um daraus bessere Erkenntnisse abzuleiten.“ Aus den Anfängen der personalisierten Medizin mit „Genomics“ haben sich mittlerweile „Multi-Omics“-Ansätze entwickelt, die aus der Entschlüsselung und dem besseren Verständnis von individuellen Unterschieden des Mikrobioms und des Metabioms neue therapeutische Ansätze ableiten. Das gelingt unterstützt durch Methoden der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur in der Bildgebung vielfältig Anwendung finden, sondern auch auf diesem Gebiet unverzichtbar sind.
Auch für die Nutzung von Daten aus den persönlichen, elektronischen Patientenakten von Millionen Versicherten braucht es diese Methoden. Wenn weitgehend nicht verknüpften Datensilos einzelner Leistungserbringer zu smarten Datenräumen zusammenwachsen und damit auswertbar werden, läutet das den Quantensprung in Sachen personalisierter Medizin ein. Die Masse der jährlich erzeugten Gesundheitsdaten wird derzeit in Zettabytes (Billionen Gigabytes) gemessen. „Die Vielfalt und Masse der neuen und verstreuten Datenquellen kann und darf jedoch nicht von einer einzigen Institution verwaltet werden,“ mahnt Fernando Andreu.
Streng regulierte Märkte profitieren besonders von besserer Datenverfügbarkeit
Dr. Markus Jostock, Gründer und Geschäftsführer der ARXUM GmbH (5) einem Startup, das Blockchain-Technologien in die Fertigungsindustrie bringt, sieht die Brücke zwischen Technologie, Daten und Strategie als wesentlichen Erfolgsfaktor für Unternehmen. Der Software-Ingenieur, der die exponentielle Entwicklung in der Chip-Performance über die letzten Jahrzehnte miterlebt hat, erkennt im eigenen Unternehmen, wie die Digitalisierung auch die letzten Papierbastionen erobert. „Die bessere Datenverfügbarkeit hat gerade in streng regulierten Branchen wie Life Sciences und Diagnostik große Vorteile,“ ist er überzeugt. Der automatisierte Datenaustausch und die Dokumentation von Prozessen in mehrstufigen Lieferketten bringen ein deutliches Plus an Sicherheit und Effizienz. Ähnliche Veränderungen werden wir auch in der patientennahen Gesundheitsversorgung sehen, wenn Technologieeinsatz, Datennutzung und Geschäftsstrategien im Einklang stehen und die Wertschöpfung und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen verbessern.
Digitalisierte medizinische Pfade – Antwort auf den Ärztemangel hier und weltweit
Wie die Digitalisierung eine leichter zugängliche und kosteneffiziente Gesundheitsversorgung für alle Bürger ermöglichen soll, zeigte Daniela Hommel auf. Sie ist die Geschäftsführerin der Curalie GmbH (6), einem Unternehmen im Helios-Fresenius Konzern.
Aus ihrer Sicht stellen der Personalmangel und die Kostenexplosion aktuell die größten Herausforderungen im Gesundheitswesen dar. Allein in Deutschland fehlten bereits heute 5.000 Ärzte. 15.000 seien es, wenn man die in den Krankenhäusern tätigen Ärzte mit einbezieht. „Wenn man davon ausgeht, dass ein Arzt etwa 10 bis 20 Menschen pro Tag behandeln kann, sind das etwa ein Drittel der Deutschen, die schon heute keine angemessene Behandlung mehr erhalten, und das, obwohl Deutschland mit 44 Ärzten pro 10.000 Einwohnern weltweit auf Platz 8 liegt,“ verdeutlicht Daniela Hommel. In anderen Ländern der Erde, wie Afrika, Asien oder Lateinamerika versorgen lediglich 8 bis12 Ärzte 10.000 Einwohner, die Herausforderungen sind hier noch gravierender. “Wir brauchen digitalisierte medizinische Pfade, mit denen wir die häufigsten Krankheiten in der Breite auch mit weniger Ärzten gut behandeln können“.
Mit Curalie, einem vernetzten, digitalen Versorgungssystem rückt der Patient als Nutzer in den Mittelpunkt: Mit Selbst-Checks auf ihrer Gesundheits-App können Patienten ihre Symptome, ihren Gesundheitszustand und ihre Risiken überprüfen und sich dann über Videokonsultationen mehr oder weniger in Echtzeit medizinischen Rat einholen. Alle Daten des Patienten sind im System gespeichert, werden dort analysiert und stehen den Behandelnden zu Verfügung. Sie können bei Bedarf zeit- und kosteneffizient geteilt werden.
Natürlich könne nicht alle Patienten und nicht alle Schritte im Versorgungsprozess digital abgebildet werden. Es sind weiterhin Bluttests oder Röntgenaufnahmen zur Diagnosestellung erforderlich und damit Vorort-Termine. Die Untersuchungen im Rahmen der erweiterten Anamnesen bietet Helios in modular aufgebauten Medical Cubes an, das sind Container, in denen Menschen auf engstem Raum in einer zum Teil auch arztfreien Mini-Praxis untersucht und behandelt werden können. Die Curalie Symptom-Checker zur Ersteinschätzung durch Patienten, ein Netzwerk von telemedizinisch angebundenen Ärzten, und die sog. „Health.Cubes“, kleine Mini-Praxen für Vor-Ort-Behandlungen, funktionieren heute bereits in Ländern wie Kenia und Vietnam. Aber auch für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen Deutschlands gibt es bereits konkrete Anfragen und Pilotprojekte.
Gesundheitsdatennutzung ja, aber…
Viele Fragen in der Diskussion drehen sich um das „Wie“ einer Nutzung von Gesundheitsdaten. In der Forderung, dass wir große Datenmengen aus unterschiedlichen Versorgungsquellen brauchen, um besser Muster und Trends zu identifizieren und daraus Erkenntnisse für Risikofrüherkennung und Therapie abzuleiten, herrscht Einigkeit unter den Experten vor Ort. Ebenso klar scheint die Forderung nach standardisierten Datenformaten und gemeinsamen Schnittstellen als Kernstück interoperabler Systeme, die den Datenfluss und die Datenauswertung über Sektorengrenzen hinweg ermöglichen. Diskussionsbedarf besteht weiterhin, wie Datenschutz und Datensicherheit so ausgestaltet werden können, dass sie den Schutz der Privatsphäre der Patienten mit dem Recht auf Datennutzung bestmöglich vereinbar machen. Der Nutzen für die Vorhersage von Krankheiten und die Entwicklung von Präventionsstrategien ist dabei ebenso zu berücksichtigen wie die Chance auf eine bessere Steuerung von Ressourcen und auf die Beseitigung von Engpässen und ineffizienten Prozessen.
Fazit der Diskussion: Es ist noch viel zu tun ist, um den nahtlosen Austausch von Daten zwischen verschiedenen Einrichtungen zu ermöglichen und die Komplexität in Sachen Datenaustausch und Datennutzung zu entwirren, damit wir die bisher ungenutzten Potenziale von Gesundheitsdaten für bessere personalisierte Medizin und eine optimierte, öffentliche Gesundheitsvorsorge freisetzen.
Let’s shape healthcare — together!
Quelle: Executive Roundtable: Power of Healthcare Data, 11. Mai 2023, Frankfurt Veranstalter: Healthcare Shapers und Morgan Philips
- Healthcare Movers 2020 – Germany Report – Healthcare Shapers
- https://www.morganphilips.com/en-de/insights/resources/executive-networking-dinner
- Günther Illert – Healthcare Shapers
- The power of precision. For every cancer patient. Today. | 2cureX
- Revolutionizing Business with Blockchain | Arxum
- The Curalie App – your health coach with teledoctor
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Innovative Versorgung, Leadership
Digitalkompetenz & DiGA-Akzeptanz bei Ärzten
Was muss sich tun, damit digitale Therapien bei Patienten und Ärzten bekannter werden und dass mehr Therapeuten sie als Apps auf Rezept verordnen? Eine interdisziplinäre Runde mit Vertretern aus Lehre, Versorgungsforschung, Patientenversorgung, angehenden Medizinern sowie Vertriebs- und Marketing Experten hat beim Healthcare Shapers Live Talk a, 19. April diese Fragestellung diskutiert:
Digitalkompetenz – auch bei Digital Natives keine Selbstverständlichkeit
Digitale Therapien tauchen in der Ausbildung von Medizinstudenten bisher nicht auf, kein Wunder, die aktuelle Approbationsordnung, die die Ausbildungsinhalte für Mediziner definiert, stammt noch aus prädigitaler Zeit. Wenn Mediziner heute Wissen zu digitalen Therapien erlernen möchten, sind das freiwillige Angebote, die on top zum dichtgepackten Lehrstoff des Regelstudiums kommen, erklärt Gürcan Mustafa Özden (1), Project Lead im Projekt Digitale Medizin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, hat das Konsequenzen: Von 1.000 Befragten weiß nur jeder 5. Medizinstudent, dass es digitale Therapien gibt, die auf Rezept verordnet werden können. DiGAs gehen derzeit in der Ausbildung an der zukünftigen Medizinergeneration komplett vorbei, d. h. selbst bei den Digital Natives unter den Medizinern kann Digitalwissen also nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
DiGA-Training mit virtuellen Patienten
Till Winkler, Professor für Informationsmanagement an der Fernuniversität Hagen (2) möchte daher im Rahmen seiner Forschungsprojekte angehende Mediziner besser auf ihre Arbeit in einer zunehmend digitalisierten Versorgungslandschaft vorbereiten. Er forscht an der Entwicklung eines virtuellen Patienten-Modells, um die Verordnung und Nutzung von digitalen Therapien in der Lehre zu trainieren.
DiGAs als komplexe Interventionen verstehen
Der Versorgungsforscher Prof. Dr. Horst Christian Vollmar (3), Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin der Ruhr-Universität Bochum, betont, dass DiGAs komplexe Interventionen sind, die die Arzt-Patienten-Beziehung verändern und deshalb nicht isoliert als digitale stand-alone-Tools betrachtet werden können. Die DiGA wirkt abhängig vom individuellen Patienten, seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten sowie der Basis-Therapie, die von Patient zu Patient verschieden ist, genauso wie die individuelle Ausprägung von belastenden Symptomen oder Begleiterkrankungen. Das alles beeinflusst den individuell erlebbaren DiGA-Nutzen für den Patienten.
Therapeuten stärker einbeziehen in die DiGA-Therapie
Für die Ärztin, Dr. med. Alexandra Widmer (4), die DiGAs täglich verordnet, ist es wichtig, dass Patienten den Freischaltcode unmittelbar nach der Verordnung erhalten. Wenn das Tage dauert, verpufft die Aufklärung und Motivation. Auch das Nachfassen von Seiten der Therapeuten sei für die Adhärenz unheimlich wichtig. Wie kommt der Patient klar mit der DiGA, wie gut hilft sie bei der Krankheitsbewältigung. Sie macht sich stark für einen „blended“ DiGA-Ansatz, der Therapeuten auch im DiGA-Prozess mit einbindet, das verleihe der DiGA-Therapie einen höheren Stellenwert, d. h. die Wertigkeit der Therapie beim Patienten könne damit verbessert werden.
DiGAs – wie Arzneimittel über Außendienst bewerben
Marcus Bergler (5), der sich auf Go to Market Strategien für DiGAs spezialisiert hat, plädiert für die Bewerbung von DiGAs bei Ärzten über einen Außendienst, ähnlich wie das beim Vertrieb von Arzneimitteln der Fall ist. Wie bei Arzneimitteln auch, muss der Therapeut über eine digitale Therapie Bescheid wissen, die Chancen und Grenzen der digitalen Therapien verstehen, die Anwendungsgebiete und Kontraindikation kennen, das Wirkprinzip und die Funktionsweise einer DiGA verstehen und eine Vorstellung davon haben, wie ihre Wirksamkeit wissenschaftlich abgesichert ist. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin DGIM forderte verstärkte Aufklärung und schlägt dazu ein Konzept für DiGA-Erklärvideos vor (6).
Digitale Brückenköpfe in der Ärzteschaft smart identifizieren
Wie findet man die „digitalen Brückenköpfe“ innerhalb der Ärzteschaft, d. h. die Ärzte, die offen sind für digitale Therapien, die im digitalen Raum über DiGAs sprechen, diese verordnen, damit positive Erfahrung sammeln? Als Unterstützung für die Segmentierung dieses jungen Marktes bietet die Exaris Solutions mit der sog. Vertical Search eine Unterstützung für Unternehmen, die digitale Therapien gezielt bewerben möchten, erklärt Nicholas Rosen, Gründer des Startups (7).
DiGAs wirken nur mit motivierten Patienten
Im Gegensatz zu einem Arzneimittel sei bei DiGAs der Patient selbst der Schlüssel zum therapeutischen Erfolg, betont Dr. Ursula Kramer. Die DiGA-Expertin, die sich mit ihrer Qualitätsplattform HealthOn seit vielen Jahren für die Aufklärung über digitale Therapien und die Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz von Patienten und Therapeuten stark macht, plädiert für ein besseres Erwartungsmanagement in Sachen DiGAs. Nur bei Patienten, die zur aktiven Mitarbeit bereit sind, macht aus ihrer Sicht eine DiGA Sinn. Nur bei diesen Patienten können digitale Therapien wirken. Daher sei ein gutes Matching entscheidend, um Frustrationen zu vermeiden. Therapeuten müssen das Profil von Patienten kennen, die von einer digitalen Therapie mit einer DiGAs profitieren können. Dann werde sich perspektivisch auch die Rate der Folgeverordnung erhöhen, weil die „richtigen“ Patienten erleben, dass DiGAs sie wirkungsvoll bei der Krankheitsbewältigung unterstützen können.
Spannendes Thema für kommende LiveTalks?
Möchten Sie ein spannendes neues Produkt, einen Service oder eine Fragestellung in einen der kommenden Healthcare Shapers LiveTalks einbringen, ein Thema, das uns in Sachen „smarte Nutzung von Gesundheitsdaten“ inspiriert und weiterbringen kann? Dann melden Sie sich bei Günther Illert, dem Gründer des Healthcare Shapers Netzwerks.
Links:
- Gürcan Mastafa Özden
- Prof. Till Winkler, Lehrstuhl für Informationsmanagement Fernuniversität Hagen
- Prof. Dr. med. Horst Christian Vollmar, Ruhr Universität Bochum
- Dr. med. Alexandra Widmer
- Marcus Bergler
- DGIM-Arbeitsgruppe legt Konzept für DiGA-Erklärvideos vor
- Nicholas Rosen, Gründer der Exaris Solutions
- Dr. Ursula Kramer, HealthOn
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk
Patientenrolle stärken – USP in Business Modellen digitaler Innovationen
Wer fordert oder wünscht, dass Patienten aktiv mitwirken an Gesunderhaltung oder Therapie, wer nach mehr Patient Empowerment ruft, muss zuallererst auf die Kapazitäten schauen, die auf Seiten der Patienten vorhanden sind, damit diese das auch tun können, betont Mina Luetkens, Gründerin des Sozialunternehmens patient4digital (1).
Beim Healthcare Shapers Live-Talk hat sie die Stärkung dieser Kapazitäten als Erfolgsfaktor digitaler Innovationen ins Zentrum gestellt, weil sie nicht nur erfolgsversprechend sind in tragfähigen Geschäftsmodellen, sondern auch Schlüssel für den solidarischen, patientenzentrierten Umbau der Gesundheitsversorgung:
- Digitalkompetenz: Ist diese Kompetenz bei Patienten Voraussetzung oder Teil neuer Geschäftsmodelle rund um Digital Health?
- Patient Empowerment: Was braucht es, damit Geschäftsmodelle, die Patienten empowern, auch wirtschaftlich erfolgreich werden?
- Datensouveränität: Wo muss die Hoheit über die Gesundheitsdaten liegen, um nachhaltige Geschäftsmodelle zu etablieren, und wie geht das?
Paradigm of patients must evolve (2)
Die Hoffnungen sind groß, dass Digitalisierung dazu beitragen kann, die Kapazitäten auf Seiten der Patienten viel umfassender als bisher zu stärken. Viele sehen sogar in der Digitalisierung eine nie dagewesene Chance zum echten Paradigmenwechsel, eine Möglichkeit, die Rolle der Patienten im Gesundheitssystem grundlegend neu zu denken. Warum also nicht in Wertschöpfungsmodellen neuer digitaler Gesundheitsservices die Stärkung und Einbeziehung der Patientenkapazität zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal machen und Investoren damit überzeugen? Warum nicht besser herausarbeiten, wie und warum digitalisierte Versorgungslösungen neue „Werteströme“ generieren, die maßgeblich vom Patientennutzen gesteuert werden?
Stimme des Patienten muss lauter werden…
Patienten können schon heute mitreden, die Rechtsgrundlagen dafür sind längst in Patientengesetzen geschaffen (3). Schaut man sich jedoch ganz konkret an, wie viel Gewicht ihre Stimme tatsächlich hat und wie sehr sie ganz praktisch, Tag für Tag von Ärzten und Therapeuten in Entscheidungsfindungen einbezogen werden, macht sich Ernüchterung breit, wie Mina Luetkens die gelebte Praxis aus eigenem Erfahren schildert. Wie ernst das Recht auf Autonomie genommen wird, zeigt sich in dem, was man Patienten zutraut, wie man mit ihnen spricht, ob man ihren Schilderungen glaubt, wenn diese nicht zum therapeutischen Erfahrungsschatz der Behandler passen, oder ob diese als psychisch abgetan werden, nach dem Motto „If your symptoms are not in my book, it is in your head.“ (2)
Digitaler heißt nicht automatisch demokratischer
Die Möglichkeiten, sich mitzuteilen, sich zu informieren, einfacher Zugang zu finden zu Expertenwissen und Versorgungsleistungen – all das kann durch Digitalisierung theoretisch verbessert werden und ein neues Rollenverständnis in der Arzt-Patienten-Beziehung fördern. Es kommt allerdings darauf an, wie man den neuen Digitalisierungsrahmen gestaltet, Digitalisierung wird nicht per se die Medizin demokratisieren, sie ruft vielmehr nach mehr Demokratie und Mitbestimmung und nach mehr Solidarität, wie Mina Luetkens in der Diskussion betont.
Weil Patienten in einem digitalisierten Versorgungssystem, anders als zu Zeiten von Papierakten, Behandlungs- und Versorgungsdaten in großen Mengen generieren, und weil diese Daten so erfasst werden, dass man sie teilen, analysieren und nutzen kann, wächst auch die Notwendigkeit, die Rechte der Bürger im Umgang mit diesen Daten weiter auszuweiten (3, 4, 5). Dem „Urheber“ der Gesundheitsdaten muss eine aktive Rolle innerhalb des Datenökosystems zugewiesen werden, denn nur so kann ein dynamisches und sich selbst tragendes Ökosystem entstehen. Damit diese Rolle auch wahrgenommen werden kann, braucht es wiederum entsprechende technische Lösungen, die dies ermöglichen. In einem nachhaltigen Gesundheitsdatenökosystem lässt sich dann Versorgung neu denken und gestalten:
- Aus den Gesundheitsdaten von Patienten können individualisierte Services und Dienstleistungen in Prävention, Diagnose und Therapie entwickelt werden. Diese können und sollen dem Einzelnen direkt zurückgespielt werden und ihm damit direkt nutzen.
- Fließen die Gesundheitsdaten aller Bürger in einen großen Gesundheitsdatenraum zusammen, können diese sowohl auf der Ebene der gesamten Solidargemeinschaft als auch für bisher benachteiligte Teil- und Randgruppen neue Erkenntnisse liefern, und die medizinische Versorgung für alle verbessern. Ein solcher Gesundheitsdatenraum wird aktuell als initialer Teil der zukünftigen europäischen öffentlichen Dateninfrastruktur (public data infrastructure) auf den Weg gebracht (6). Dessen Gestaltung erfordert dringend innovative (!) Lösungen im Bereich der Regulierung.
Neue Rollen fordern neue Rechte von Patienten
Im zukünftigen europäischen Gesundheitsdatenraum reden Bürger nicht nur mit, wenn es um ihre medizinische Versorgung geht, sondern auch, wenn es um die Gesundheitsdaten geht, die zur gesundheitlichen Daseinsfürsorge genutzt werden. Das Recht auf Datensouveränität, d. h. Selbstbestimmtheit in der Nutzung dieser Daten, auch das Recht auf Nutzung von Algorithmen, die mit den Daten vieler Patienten entwickelt werden, diese erweiterten Rechte sind Voraussetzung dafür, die Kapazitäten von Patienten freizusetzen. Die Digitalisierung ist also nicht per se der Hebel zur Demokratisierung der Medizin, es kommt darauf an, was wir als Gesellschaft daraus machen, wie wir die Rechte des Einzelnen in diesem digitalisierten Versorgungsumfeld parallel dazu ausweiten, z. B. im Hinblick auf die Datennutzung.
Digitale Soziale Marktwirtschaft: Mit den Daten vieler zur Wertschöpfung für alle
Wer Algorithmen entwickelt mit den Gesundheitsdaten vieler, hat die Pflicht, diese solidarisch an die Gemeinschaft zurückzugeben. Marktteilnehmer treten mit diesen Daten in den Wettbewerb um die besten, nutzenstiftenden Services. Nicht die Daten selbst, sondern die Services, die auf diesen Daten aufsetzen, schaffen neue „Wertströme“ in Geschäftsmodellen, die sich wirtschaftlich tragen und Wachstum generieren, so der Tenor der Diskussion. Wir treten ein in eine neue Ära der digitalen, sozialen Marktwirtschaft. „Daten und Algorithmen sind das Soziale, auf dem sich Wettbewerb um gute Dienstleistungen aufbauen kann.“ Die Gesundheitsdaten bleiben in der Hoheit des Einzelnen, als Teil eines kollektiven Gesundheitsdatenraum schaffen sie Nutzen für die Solidargemeinschaft, damit in Zukunft für alle Qualitätsmedizin zugänglich und bezahlbar bleiben kann.
Neue Rollen erfordern neue Fähigkeiten
Patienten zu befähigen, ihre neuen Rechte zu kennen und zu nutzen, setzt die Mitwirkung und das Umdenken Vieler in Politik, Gesellschaft und Gesundheitswesen voraus. Therapeuten müssen erkennen, dass es nicht nur Heilkunst und Wissen ist, das sie zum Wohle der Patienten einsetzen, sondern dass sie der hippokratische Eid in einer digitalisierten Informationsgesellschaft auch dazu verpflichtet, ihr Wissen mit Patienten zu teilen. Nur dann können Bürger das gesetzlich verbriefte Recht auf Autonomie auch in Gesundheitsfragen leben.
Digital zu mehr Patientenautonomie – ein dickes Brett
Und das Bewusstsein dafür zu schärfen und die Rolle des autonomen Patienten mit erweiterten Rechten und Kapazitäten in einem digitalisierten Gesundheitssystem zu stärken, ist eine großen Aufgabe. patients4digital, das Sozialunternehmen von Mina Luetkens, widmet sich zusammen mit Mitstreitern und Unterstützern genau dieser Aufgabe. Gemeinsam wollen sie die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, um die zukünftige Rolle jedes einzelnen zu stärken, so das jeder seine eigene Gesundheitsversorgung selbstbestimmter, selbstwirksamer, autonomer und unabhängiger gestalten kann. Häufig wird im Kontext DiGAs, den neuen digitalen Therapien auf Rezept“, die Frage gestellt: „Was können wir tun, damit Patienten digitale Therapien nutzen?“ Dass sich in dieser Frage ein überkommenes Rollenverständnis zeigt, das weit unter den Möglichkeiten bleibt, die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung für die Stärkung der Ressourcen von Patienten eröffnet, hat die Diskussion im Rahmen des Healthcare Shapers Live Talk mit Mina Luetkens sehr eindrücklich gezeigt. Die Frage, der wir uns stellen müssen, lautet vielmehr: „In welchem (digitalisierten) Versorgungsumfeld müssen DiGas wie umgesetzt werden, damit die Menschen umfänglich von ihnen profitieren können?“.
Wir danken Mina Luetkens, Gründerin von patients4digital für den spannenden Impuls und die lebendige Diskussion. Weiter zu aktuellen Projekten und Aktivitäten von patients4digital.
Quellen
- Mina Luetkens, Gründerin von patients4digital
- Dave deBronkart. E-patient Dave. https://www.linkedin.com/in/epatientdave/
- Patientenrechtegesetz https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/patientenrechtegesetz.html
- Patientendatenschutzgesetz (PDSG) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientendaten-schutz-gesetz.html
- Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG). Digitalisierungsstrategie vorgelegt – BMG (bundesgesundheitsministerium.de)
- Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) (europa.eu)
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk, Patientenorientierung
Digitale Reife von Krankenhäusern messen: Objektiv, schnell & ressourcensparend?
Das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) soll die stationären Einrichtungen fit machen für die digitalisierte Versorgung – mehr Qualität, höhere Effizienz, größerer Nutzen für Patienten und Zuweiser durch bessere Nutzung von Behandlungs- und Prozessdaten. Es steht viel Geld im Raum: 4.3 Mrd. Euro umfasst der Fördertopf des Krankenhauszukunftsfonds. Da liegt es auf der Hand, dass der Gesetzgeber wissen will, ob der Einsatz der Mittel in den Häusern zu den gewünschten Ergebnissen führt. Der DigitalRadar (1), von hochkarätigen Experten als Messinstrument entwickelt, soll genau das tun – die Digitalisierungsfortschritte der stationären Einrichtungen qualitativ und quantitativ erfassen und strategische Hilfestellung sein, um Digitalisierungslücken zu erkennen und zu schließen und den digitalen Reifegrad von Krankenhäusern im internationalen Vergleich einzuordnen.
Steckbrief DigitalRadar
- Auftraggeber: Bundesministerium für Gesundheit BMG
- Konsortiums: inav GmbH, HIMSS Europe GmbH, Lohfert & Lohfert, RWI – Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung, Universität St. Gallen – School of Medicine, HIMSS, Inc., Prof. Dr. Sylvia Thun: Entwicklung des Messinstruments und Durchführung der Datenerhebung und Evaluation zur Erfassung des Digitalen Reifegrades von Krankenhäusern: Beauftragung Mai 2021
- Pilotphase: 19.08.2021 – 8.09.2021
- Datenerhebung: 30.06.2021 (t1) und 30.06.2023 (t2)
- Datenerhebungsphase (t1):
- 5.10.2021: Start der Datenerhebungsphase – Selbsteinschätzung durch die Häuser
- 17.12.2021: Ende der 1. Datenerhebungsphase
Zwischenbericht
Beschreibung der Entwicklung des Messinstrumentes „DigitalRadar“, Durchführung der ersten Messung (t1), Ergebnisse der ersten Datenerhebung (2):
- Teilnehmer: 1.624 Krankenhäuser – Verpflichtende Teilnahme für alle Häuser, die Mittel aus dem Krankenhauszukunftsfonds beantragen
- Durchschnittlicher DigitalRadar Score: 33,3 von 100 Punkten.
- 70 % zwischen 23 und 44 Punkten.
- Größere Häuser sind besser digitalisiert als kleine.
- Vergleichbar stehen auch die Krankenhäuser in den USA, Australien, Kanada (Ontario) noch sehr am Anfang ihrer digitalen Transformation
- In welcher Dimension schneiden die Häuser am besten ab?
- Struktur und Systeme
- In welcher Dimension ist die digitale Reife am geringsten?
- Patientenpartizipation und Telehealth (private Häuser schneiden hier besser ab!)
- Durchschnittlicher DigitalRadar Score: 33,3 von 100 Punkten.
Drei Fragen an Dr. Oliver Wagner:
Dr. Oliver Wagner (3), Chirurg und international angesehener Experte für Innovations- und Prozessmanagement im stationären Bereich ist Partner der Healthcare Shapers. Er hat sich intensiv mit dem DigitalRadar beschäftigt, mit dem Verständnis und der Vision von Digitalisierung im Krankenhaus und dem Mehrwert und den Herausforderungen des DigitalRadars im Hinblick auf die KHZG-Förderung.
1. Digitalisierungsfortschritt der Krankenhäuser messen – Wie gut gelingt das im DigitalRadar?
Weil fast jedes Haus Mittel aus dem Fonds beantragt hat, machen fast alle Einrichtung in Deutschland mit an diesem Evaluationsprojekt (n=1.624), und das ist sehr zu begrüßen. In sieben verschiedenen Dimensionen (s. Zwischenbericht) geben die Verantwortlichen der Häuser ihre Einschätzung ab, wo sie zum Zeitpunkt der Erhebung in Sachen Digitalisierung stehen. Der Zwischenbericht mit Ergebnissen der ersten nationalen Reifegradmessung deutscher Krankenhäuser im umfassend und zeigt: Es ist noch viel zu tun. Die Häuser stehen ganz am Anfang mit ihren Digitalisierungsbemühungen. Daher liegt ihr Fokus noch stark auf der internen digitalen Strukturqualität – ob und wie schnell sich dadurch Veränderungen für Patienten oder auch für die Zuweiser im praktischen Versorgungsprozess zeigen werden, bleibt offen. Das Reporting der Häuser im Rahmen der ersten Datenerhebung des DigitalRadars läuft ganz klassisch über Fragebögen und bindet immense Ressourcen, d. h. Zeit und Geld, sowohl durch die Erhebung in den Häusern als auch von Seiten des Konsortiums, das die Vollständigkeit und Richtigkeit der Datenerfassung durch mehrfache Validierungsschleifen sicherstellen will.

2. Digitalen Reifegrad standardisiert erfassen: Wo sind die Knackpunkte?
Die Daten im DigitalRadar sind subjektive Einschätzungen der Verantwortlichen in den Krankenhäusern, die digitale Projekte organisatorisch vorantreiben, das sind in erster Linie die Mitarbeiter aus den IT-Abteilungen. Diese „digitale Nabelschau“ birgt Gefahren. Wenn die in der Patientenversorgung eingebundenen Ärzte und Pflegekräfte kaum mitwirken an der Datenerhebung, wird es schwierig mit der späteren Akzeptanz der Digitalisierungsschritte in den Häusern, die aus den Befragungen abgeleitet werden. Und wenn die Stimme der Patienten und die der zuweisenden Ärzte nicht berücksichtigt wird, läuft man Gefahr, den Digitalisierungsfortschritt an den Patienten vorbeizuentwickeln. Es könnte sein, dass man zu spät merkt, wenn die Needs und Pains der Nutzer nicht adäquat adressiert werden. Weil die Digitalisierung in den Häusern noch ganz am Anfang steht, ist die Expertise für die subjektive Einschätzung im Rahmen der Datenerhebung vielleicht objektivgesehen gar nicht vorhanden, externe Beratungsexpertise hat jedenfalls nur jedes fünfte Haus eingeholt (2).
3. Ressourceneinsatz – Datenverzerrung – Befragungs-Bias? Gibt es bessere Alternativen zur Erfassung des digitalen Reifegrades von Krankenhäusern?
Wir brauchen sehr früh in den Parametern, mit denen wir Digitalisierungsfortschritt in der stationären Versorgung messen, die Perspektive derjenigen, für die wir diese Digitalisierung vorantreiben: Das sind die Patienten. Was kommt dort an? Natürlich ist die Basis von Veränderungen die digitale Strukturqualität. Sie ist jedoch kein Selbstzweck, sondern eine Chance, Prozesse nicht nur zu digitalisieren, sondern sie so zu verändern, dass die Transparenz für und die Partizipation von Nutzern verbessert werden.
Smart, schnell und objektiv den nutzenstiftenden Digitalisierungs-Impact zu erfassen, das ist unser Vorschlag. Wir präferieren eine externe, objektivierbare Sicht auf den Fortschritt, den eine digitalisierte Gesundheitsversorgung im stationären Bereich eröffnet. Auch wenn sich mit diesem Ansatz anfänglich vermutlich ein düsteres Bild zeigen wird, weil Häuser kaum Möglichkeiten für Patienten und Zuweiser bieten, von digitalen Infrastrukturen zu profitieren. Trotzdem sollten wir bei der Messung des digitalen Reifegrades eines Hauses über die Zeit erfassen, wie viel einfacher es wird – getriggert durch die Digitalisierungsmaßnahmen der Häuser – Daten einzusehen, zu teilen, oder sich als Patient partizipatorisch in Versorgungsprozesse einzubringen. Wie viel besser fühlen sie sich versorgt durch die Nutzung digitaler Tools, die ihnen die Häuser bereitstellen. Wie schätzen sie das Angebot ein in der Vorbereitung ihres Klinikaufenthaltes, in der Zeit auf Station, im Entlassmanagement? Wie viel einfacher, wie viel besser wird die Kommunikation mit Pflege und ärztlichem Personal, was tut sich in der Übergabe vom stationären in den ambulanten Bereich? Wie viel besser funktioniert die Absprache zwischen Klinik und versorgendem Hausarzt?
Das Interview mit Dr. Oliver Wagner führte Dr. Ursula Kramer, Digital Health Expertin (4) und Mitglied im Managementboard der Healthcare Shapers (5).
Weiterführende Insights von Dr. Oliver Wagner zur Erfassung des digitalen Reifegrades im Bericht auf MedtecOnline (6).
Quellen:
- DigitalRadar: Projektwebsite https://www.digitalradar-krankenhaus.de/
- Zwischenbericht: Ergebnisse der ersten nationalen Reifegradmessung deutscher Krankenhäuser https://www.digitalradar-krankenhaus.de/download/220914_Zwischenbericht_DigitalRadar_Krankenhaus.pdf
- Dr. Oliver Wagner https://www.healthcareshapers.com/portfolio/wagner-oliver/
- Dr. Ursula Kramer HealthOn Qualitätsplattform für Gesundheits-Apps
- Healthcare Shapers Managementboard
- Dr. Oliver Wagner und Prof. Dr. Claudia Doblinger (MedtecOnline): Bewertung der digitalen Reife in deutschen Krankenhäusern – objektiv machbar?
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Patientenorientierung, Telehealth
EU AI Act – für eine bessere digitale Welt?
Der neuen EU AI Act (1) ist mehr als eine weitere Richtlinie, die das regulatorische Korsett für Unternehmen der Life Science- und MedTech-Branche einschnürt. Diese EU AI Act läutet, nach Einschätzung von Kevin Schawinski (2), Gründer der Modulos AG (3) und Experte für die Datenqualität von KI-Anwendungen, einen Shift ein hin zu einer vollkommen neuen Daten-Philosophie, so der Tenor beim HCS Live-Talk der Healthcare Shapers. Warum ist das so, und was heißt das für Unternehmen aller Branchen, die automatisierte Entscheidungssysteme entwickeln und nutzen möchten?
Es geht im Kern um den Schutz der Bürger. Denn automatisierte Entscheidungssysteme können Leben und Gesundheit maßgeblich beeinflussen, wenn aus großen Datenmengen mit Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) und des Maschinellen Lernens (ML) Empfehlungen abgeleitet werden, z. B. medizinische Diagnosen, die Eignung für Jobs, die Kreditwürdigkeit von Bürgern und Unternehmen etc.. Und die EU denkt dabei durchaus groß: Sie will mit dem EU AI Act den Grundstein legen für eine „bessere“, digitale Welt – auch außerhalb der EU.
„Faire“ KI-Anwendung – bessere, digitale Welt?
KI-Anwendungen sollen überall auf der Welt und in allen Lebensbereichen – Gesundheit, Finanzen, Infrastruktur und Bildung – die bürgerlichen Grundrechte wahren. Keine Bevölkerungsgruppe soll durch die Nutzung automatisierter, KI-gestützter Entscheidungssysteme benachteiligt werden. Das ist ein großer Anspruch, der den vielen Chancen und den großen potenziellen Risiken dieser neuen Anwendungen Rechnung tragen und der den Grundstein legen soll für Vertrauen und Akzeptanz in diese Systeme.
Für Entwickler heißt das: Wer KI-Systeme trainiert, muss dies mit Daten tun, die die höchstmögliche Qualität aufweisen, die valide sind, alle relevanten Bevölkerungsgruppen einschließen und Ergebnisse erzeugen, die mit den Grundrechten von EU-Bürgern vereinbar sind. Die erforderlichen Maßnahmen zur Einhaltung dieser Standards sind bereits im Entwicklungsprozess zu dokumentieren und bei unangekündigten Audits den Nationalen AI Regulatoren ggfls. offenzulegen, sonst drohen empfindliche Strafen.
KI – keine Spielwiese für Entwickler
Was bezweckt die EU damit? KI-Systeme sollen keine Spielwiese für Entwickler werden, denn die Gefahr ist viel zu groß, das Vertrauen in diese zukunftsweisenden Technologien zu verspielen. Deshalb wird Data Science grundsätzlich reguliert, wenn KI-Anwendungen mit „hohem Risiko“ entwickelt werden. Was „hohes Risiko“ genau bedeutet, bleibt gesetzgeberisch absichtlich vage, um Hersteller grundsätzlich für die hohen Anforderungen an die Qualität der verwendeten Daten zu sensibilisieren, auch wenn weniger risikobehaftete KI-Anwendungen entwickelt werden. Wer KI-Methoden in der Entwicklung von Produkten und Services nutzt, muss zeigen, dass er die Risiken sorgfältig analysiert hat und den Kontext umfassend einschätzen kann, in dem z. B. automatisierte Entscheidungshilfen genutzt werden. Fragen zur möglichen Verzerrung von Daten (Bias), zu potenziellen Störgrößen, die unliebsames “Grundrauschen” (Noise) verursachen, sowie zur Respräsentativität (Repräsentanz) der Daten muss der Hersteller überzeugend beantworten können. Potenzielle Risiken, die sich aus der KI-Anwendung für Bürger ableiten, müssen eingeschätzt und durch entsprechende Maßnahmen mitigiert werden können. Denn die Anwendungen sollen diskriminierungsfrei funktionieren, bei Frauen ebenso gut, wie bei Männern, unabhängig von Alter oder Hautfarbe, Bildungsstatus, Einkommen etc.
Damit ist der EU AI Act nach Einschätzung des Experten für Data-centric AI – Kevin Schawinski – nicht die Bremse, die durch hohe Regulierungshürden Innovation abwürgt. Vielmehr setzt dieser zukunftsweisende EU AI Act die schützenden Rahmenbedingungen, damit KI-Anwendungen ihre Potentiale zum Nutzen aller Bürger entfalten können. Der EU AI Act hat nach Einschätzung von Kevin Schawinski das Potential, als globaler Standard weltweit exportiert zu werden, wie die Europäische Datenschutzgrundverordnung. Die GDPR hat sich als Qualitätsstandard etabliert, der in globalen Märkten akzeptiert wird und als Gütesiegel für den Schutz der persönlichen Daten der Anwender gilt. Der EU AI Act kann der nächste Exportschlager werden und einen Beitrag leisten für „faire“ KI-Anwendungen in einer besseren, digitalen Welt.
Quellen:
- EU AI Act – Artificial Intelligence Act: Council calls for promoting safe AI that respects fundamental rights, Press Release Dec 2022
- Kevin Schawinski. LinkedIn Profile
- Modulos AG, Zurich. Data-centric AI enterprise platform that helps to find the errors, noise and bias in data so fairer and better AI can be built even faster.
Beim HCS Live Talk dabei sein?
Die HCS Live-Talks – einmal im Monat, 60 Minuten – bieten die Chance, sich mit Experten zu vernetzen und auszutauschen, oder selbst eine innovative Idee oder ein Produkt zur smarten Nutzung von Daten im Healthcare Kontext einzubringen. Gerne direkt anmelden oder bei Fragen Günther Illert, Dr. Ursula Kramer oder Brigitte Lippmann aus dem Netzwerk kontaktieren. Die Teilnahme an den HCS Live Talks ist kostenlos.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk, Patientenorientierung
Vertical Search – HCP Segmentierung 2.0?
Was auf Webseiten von Ärzten nicht thematisiert wird bzw. als Angebot nicht zugänglich ist, ist auch in der realen Versorgungspraxis nicht existent, so die Hypothese, die dem neuen Segmentierungs- und Targetingansatz des jungen Unternehmens EXARIS Solutions (1) zugrunde liegt. Wenn ein Arzt auf seiner Webseite nicht über Apps auf Rezept spricht, nicht erklärt, was diese digitalen Therapien sind und wie man sie bekommen kann, wird er vermutlich auch keine “Apps auf Rezept” verordnen. Umgekehrt sind Ärzte, die auf der Praxis-Webseite oder in Online-Fach-Publikationen über DiGAs sprechen, z. B. für die Segmentierung und das Targeting von DiGA-Herstellern wichtig und relevant. Sie helfen, Verordner für digitale Therapien zu identifizieren, um sie als Multiplikatoren in Marketing- und Vertriebskonzepten einzubinden.
Einer der Gründer von EXARIS Solutions, Nicholas Rosen (2), war zu Gast beim HCS Live Talk und hat nach einer kurzen Live-Demo sein neues Segmentierungs- und Targeting-Tools mit Experten aus dem erweiterten Netzwerk der Healthcare Shapers diskutiert. Seine langjährige Erfahrung mit Leistungserbringern im Gesundheitsmarkt und die hohe Technik-Expertise in seinem Team hat ihn inspiriert, zusätzlich zu klassischen Ansätzen in Segmentierung und Targeting, mit einer sog. Vertical Search speziell für den Gesundheitsmarkt neue Wege aufzuschließen. Das Unternehmen nutzt dazu frei zugängliche, digitale Quellen z. B. Webseiten von Leistungserbringern, dazu zählen Ärzte der verschiedenen Fachgebiete, Zahnärzte, Physiotherapeuten, Pflegeeinrichtungen, Apotheken etc.. Die Suche umfasst Therapeuten aus dem niedergelassenen und aus dem stationären Bereich. Die Informationen zu den Leistungserbringern lassen sich feingranular für jeden Suchbegriff bis zum Einzeleintrag auf einer Website filtern.
Im Ergebnis erhalten Kunden verdichtete Informationen zu den Interessensschwerpunkten und Aktivitäten der identifizierten Leistungserbringer (HCP Healthcare Professionals): Wer ist Experte oder möglicher Verordner in einem bestimmten Indikationsgebiet oder für einen bestimmten, z. B. digitalen Service? Die Antworten helfen sowohl Startups als auch etablierten Unternehmen der Life Science Branche, ihre Ressourcen für Marketing und Vertrieb zielgerichteter einzusetzen.
Segmentierung & Targeting mit Vertical Search – Spannende Use Cases
Beim HCS Live-Talk hat Nicholas Rosen, einer der Gründer von EXARIS Solutions live demonstriert, wie das Segmentierungs- und Targeting-Tool funktioniert und mit Experten aus der Gesundheitswirtschaft diskutiert, ob und wenn ja wie, Unternehmen diesen neuen Weg nutzen können:
Health Startups – smarte Vertriebsstrategien entwickeln
Kunden, die ihre digitalen Services oder Produkte im Gesundheits-Markt platzieren möchten, können mit Hilfe der Vertical Search identifizieren, welche Ärzte oder anderen Leistungserbringer als potentielle Verordner oder als Multiplikatoren in Fragen kommen, insbesondere spannend, wenn ganz neue Märkte entwickelt werden müssen. Diese Informationen lassen sich regionalisiert ausspielen und z. B. von DiGA-Herstellern direkt in der Zielgruppenansprache in Marketing und Vertrieb nutzen.
Pharma- & Medtech-Unternehmen – neue Kundengruppen erschließen
In der Launch-Phase neuer Produkte lassen sich die noch nicht vom Außendienst besuchten Ärzte, z. B. mit der Vertical Search vorselektieren, dazu werden z. B. auch Informationen zur „Digitalen Readyness“ dieser HCPs genutzt, so dass digital-affine Ärzte identifiziert werden können, die besser ansprechbar sind über digitale Touchpoints in Multi-Channel-Engagement-Konzepten. Aus den digitalen Reaktionsdaten der potentiellen Interessenten für ein Produkt lässt sich eine Liste präselektierter Ärzte generieren, die zur weiteren Bearbeitung an den Außendienst übergeben werden kann.
Krankenkassen – Versicherten Zugang zur digitalen Gesundheitsversorgung erleichtern
Mit einer Arzt-Suche, die auf der Vertical Search basiert, können Versicherte in ihrer Region die Leistungserbringer besser finden, die z. B. die elektronische Patientenakte ePA nutzen, die über Video-Sprechstunden erreichbar sind, mit denen sie Termine online vereinbaren können oder die Apps auf Rezept verordnen. Krankenkassen können mit einem solchen Angebot die digitale Gesundheitskompetenz ihrer Versicherten stärken, gemäß SGB V § 20 k haben sie seit einigen Jahren den gesetzlichen Auftrag dazu. Denn um digitale Innovationen in der Gesundheitsversorgung nutzen zu können, muss ein Versicherter die Leistungserbringer finden, die diese Tools kennen und einsetzen können. Und Arztportale, wie z. B. Jameda, bieten Patienten solche Suchmerkmale nicht.
Recuiter – schneller die richtigen Spezialisten für Projekte finden
Auch das Auffinden von Leistungserbringern mit ganz bestimmten Expertisen, die für Advisory Boards oder Projekte gesucht werden, unterstützt die Vertical Search, die schnell relevante und valide Suchtreffer liefert.
Quellen
- EXARIS Solutions – Vertical Search
- Nicholas Rosen – LinkedIn Profil
Beim nächsten HCS Live-Talk dabei sein?
Unsere HCS Live-Talks – einmal im Monat, 60 Minuten – bieten die Chance, sich mit Experten zu vernetzen und auszutauschen, oder selbst eine innovative Idee oder ein Produkt zur smarten Nutzung von Daten im Healthcare Kontext einzubringen. Gerne direkt anmelden oder bei Fragen Günther Illert, Dr. Ursula Kramer oder Brigitte Lippmann aus dem Netzwerk kontaktieren. Die Teilnahme an den HCS Live Talks ist kostenlos.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk
Patientendaten digitalisieren – Zeitenwende einläuten!
Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Datenschutz in Deutschland eine so große Bedeutung, dass sich kaum jemand traute, über den Mehrwert von Auswertungen und Analysen erhobener Patientendaten zu sprechen. Dies verändert sich aktuell sowohl national als auch europäisch. Zwar hat der Datenschutz immer noch einen hohen Stellenwert, aber die Chancen, die in der Analyse von Patientendaten liegen, sind zahlreich erkannt und viele Gesetzesinitiativen und Maßnahmen wurden initiiert (1, 2, 3, 4), um diese Chancen zu nutzen.
So können Versicherte die in elektronischen Patientenakten (ePA) abgespeicherten Gesundheitsdaten ab 2023 pseudonymisiert für Forschungszwecke zur Verfügung stellen. Die Crux: Bisher ist die Zahl der Versicherten, die eine solche elektronische Patientenakte nutzen, noch sehr überschaubar, es sind rund 500.000 (5), obwohl Krankenversicherungen bereits seit Januar 2021 dazu verpflichtet sind, ihren Versicherten eine solche elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen
Die Vertraulichkeit der Datensammler und Datenbereitsteller vorausgesetzt, ist eine abgestimmte Strukturierung der Daten zwingend, damit diese sinnvoll für Analysen oder als Basis für die Entwicklung von Algorithmen nutzbar sind, und mit Systemen künstlicher Intelligenz arbeiten können. Die technischen Systeme müssen Daten kompatibel austauschen können, sie müssen interoperabel sein.
Durch Interoperabilität Nutzen schaffen
Das gelingt durch die Nutzung von Standards, wie zum Beispiel HL7 FHIR (HL7 = Health Level 7, ein internationaler Standard für den Austausch von Daten im Gesundheitswesen; FHIR – Fast Healthcare Interoperability Resources, die jüngste Generation der HL7 Standards).
In Deutschland wurden 2021 zahlreiche Initiativen (z. B. Medizininformatik-Initiative, FHIR Komitee von HL7 Deutschland) gestartet und Organisationen (z. B. gematik, Kassenärztliche Bundesvereinigung) gesetzlich damit beauftragt, diese Standards für Datenstrukturen auszuarbeiten, so dass interoperable Datenstrukturen und Informationssysteme entstehen, die eine sinnvolle und effektive Verarbeitung von Gesundheitsdaten in Deutschland ermöglichen.
Die Standards kontinuierlich zu definieren und zu detaillieren ist nicht genug. Die Informationssystemhersteller müssen diese implementieren. Nur so können Chancen des Datenaustauschs genutzt werden und Mehrwerte entstehen, wenn z. B. Spezialanwendungen aufwandsarm in die Systemumgebung eines Krankenhauses integriert werden, ohne dass Doppeleingaben oder komplexe Datentransformationen erforderlich sind, die zu hohen Kosten führen.
Wir, die Experten aus dem Netzwerk der Healthcare Shapers, können und dürfen mitwirken an dieser Zeitenwende hin zu interoperablen Informationssystemen. Diese legen Patientendaten standardisiert und strukturiert ab und tauschen sie aus, um daraus neue Erkenntnisse für die bessere Versorgung von Patienten abzuleiten, die die Möglichkeiten der Prävention, Diagnostik und Therapie erweitern. Wir freuen uns, diese „Datendrehscheiben“ aktiv mitzugestalten, die hochvertrauliche Gesundheitsdaten schützen und zeitgleich deren Nutzung ermöglichen, so dass der Patient mit seinen individuellen Präferenzen und Möglichkeiten tatsächlich ins Zentrum der Gesundheitsversorgung rücken kann.
Fragen, interessante Projekte, akuter Beratungsbedarf? Hier die Interoperabilitätsexperten im Netzwerk der Healthcare Shapers, die gerne weiterhelfen: Rüdiger Hochscheidt, Andre Pöhler, Michael Zürcher, Marc Anken, Roberto Minetti
Quellen, Gesetze & Initiativen
- Veröffentlicht in Digitalisierung